- Politik
- Energiekrise
Länger schuften fürs Heizen
Der Europäische Gewerkschaftsbund hat berechnet, wie lange Menschen mit niedrigem Einkommen für Strom und Heizung arbeiten müssen
Mindestlohn ist nicht gleich Mindestlohn: In der EU ist die Bandbreite zwischen einzelnen Ländern enorm. Während in Luxemburg mehr als 13 Euro pro Stunde gezahlt werden, sind es in Bulgarien gerade einmal zwei Euro. Ohnehin schützen die Mindestlöhne oft nicht vor Armut. Mehr als 25 Millionen Europäer*innen sind »arm trotz Arbeit«, wie die Europaabgeordnete Özlem Alev Demirel (Die Linke) betont. Angesichts der rasant steigenden Inflation im Euroraum dürften in den letzten Monaten noch viele Millionen dazu gekommen sein.
Wie prekär die Lage für die Betroffenen ist, zeigt eine aktuelle Analyse des Europäischen Gewerkschaftsbundes (EGB). Demnach müssen Beschäftigte, die nur einen Niedriglohn erhalten, im Schnitt einen Monat pro Jahr arbeiten, nur um die Energierechnungen bezahlen zu können. »Arbeitnehmer*innen, die in 16 EU-Mitgliedstaaten den Mindestlohn verdienen, müssen den Gegenwert eines Monatslohns oder mehr beiseite legen, um zu Hause Licht und Heizung am Laufen zu halten«, heißt es im EGB-Papier. Im vergangenen Jahr war dies nur in acht Mitgliedstaaten der Fall. Schon vor der Preisexplosion hatten zehn Millionen Erwerbstätige in der EU große Schwierigkeiten, ihre Energierechnungen zu bezahlen. Allein bis Juli dieses Jahres sind die Kosten für Gas und Strom europaweit um fast 40 Prozent gegenüber dem Vorjahr gestiegen. An den Strombörsen wird derweil weiter gezockt. Das treibt die Preise nach oben. »Zwischen Anfang Juli und Anfang September 2022 hat sich der Preis für kurzfristigen Strom an der Strombörse mehr als verdoppelt«, meldet das Wirtschaftsmagazin »Forbes«. Keine guten Aussichten für die Verbraucher*innen in Europa.
Beim Blick auf die reinen Arbeitstage, die für das Begleichen der Energierechnungen draufgehen, zeigt sich das ganze Ausmaß der Teuerungen. Hier gab es in vielen Ländern drastische Anstiege: Etwa in Estland, wo die Betroffenen nun 26 Tage länger arbeiten müssen, um die Rechnungen zu begleichen. In den Niederlanden brauchen Mindestlohnbezieher*innen nun 20 Arbeitstage mehr, um Strom und Gas bezahlen zu können. Je mehr die Menschen für Strom und Gas ausgeben, desto weniger bleibt ihnen für andere Dinge. »Hinter diesen Zahlen stehen reale Menschen, die immer härtere Entscheidungen treffen müssen, ob sie es sich leisten können, die Heizung einzuschalten oder warme Mahlzeiten für ihre Kinder zu kochen«, betont EGB-Vize-Generalsekretärin Esther Lynch.
Längst sind nicht mehr nur Beschäftigte mit niedrigen Einkommen betroffen. In vier Ländern – der Slowakei, Griechenland, Tschechien und Italien – ist die jährliche Energierechnung inzwischen höher als ein Monatslohn für einen Arbeitnehmer mit einem Durchschnittsgehalt. In diesen Ländern müssen Mindestlohnbezieher*innen teilweise mehr als zwei Monate nur für ihre Strom- und Gasrechnung schuften. Trauriger Spitzenreiter ist hier Tschechien mit 65 Arbeitstagen. In Deutschland sind 33 Arbeitstage nötig, um zu Hause nicht im Dunkeln frieren zu müssen. Da die Daten der EGB-Analyse noch aus dem Juli dieses Jahres stammen, dürfte sich die Situation für viele Arbeitnehmer*innen weiter verschärft haben.
Der Europäische Gewerkschaftsbund drängt deshalb auf entschlossene Maßnahmen: »Wenn die Rechnung mehr als ein Monatsgehalt kostet, hilft kein noch so cleverer Spartrick mehr. Diese Preise sind für Millionen von Menschen einfach unerschwinglich geworden«, so Vize-Generalsekretärin Esther Lynch. Deshalb müssten Lohnerhöhungen »dem Anstieg der Lebenshaltungskosten Rechnung tragen«. In der momentanen Krise »sollten Mindestlöhne schnell steigen und Staaten gezielte Notzahlungen an Geringverdiener*innen leisten«, so der EGB.
In Deutschland steigt der Mindestlohn zum Oktober auf zwölf Euro. Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) feierte die Anhebung mit markigen Worten: »Damit stärken wir die Kaufkraft und geben einen wichtigen Impuls für die wirtschaftliche Erholung.« Doch angesichts explodierender Preise wird diese Lohnerhöhung verpuffen. Die deutschen Gewerkschaften sehen die Entwicklung mit großer Sorge. So reagiert die IG Metall auf die galoppierende Inflation und passt ihre Forderungen entsprechend an. In den am Montag startenden Tarifverhandlungen will sie acht Prozent mehr Lohn für die Beschäftigten in der Metall- und Elektroindustrie. »Bei den stark steigenden Preisen etwa für Energie und Lebensmittel sind die Erwartungen der Beschäftigten groß«, machte Daniel Friedrich, Bezirksleiter der IG Metall Küste klar. »Bei den Menschen muss eine ordentliche Erhöhung ankommen.« Die Gewerkschaft räumt ein, dass auch die Firmen unter den steigenden Energiepreisen leiden. Doch anders als die Unternehmen könnten die Arbeitnehmer*innen die explodierenden Kosten nicht an die Kunden weitergeben.
In der neuen App »nd.Digital« lesen Sie alle Ausgaben des »nd« ganz bequem online und offline. Die App ist frei von Werbung und ohne Tracking. Sie ist verfügbar für iOS (zum Download im Apple-Store), Android (zum Download im Google Play Store) und als Web-Version im Browser (zur Web-Version). Weitere Hinweise und FAQs auf dasnd.de/digital.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.
Vielen Dank!