- Kultur
- Karl May und Winnetou
Genozidforscher Zimmerer: »Das ist weiße Identitätspolitik«
Für den Genozidforscher Jürgen Zimmerer gehört die koloniale Fortschrittsideologie zur DNA von Karl May. Über die Bücher sollte man diskutieren – als historische Dokumente
Ende August hat der Ravensburger Verlag ein Begleitbuch zu dem Film »Der junge Häuptling Winnetou« zurückgezogen, weil es Kritik daran gab. Es folgte eine wilde Debatte über Cancel-Culture und ein angebliches Verbot der Bücher von Karl May, um die es ursprünglich gar nicht ging. Auch im »nd« gab es mittlerweile zwei Kolumnen, die auf diesen Zug aufgesprungen sind. Wollen Sie Winnetou verbieten?
Es will keiner verbieten! Das stand nie zur Debatte. Wir wissen mittlerweile, dass das ein von rechts inszenierter Shitstorm war, auf den dann zahlreiche Politiker*innen von Markus Söder über Sigmar Gabriel bis Ralf Stegner aufgesprungen sind. In ganz vielen Politikerstatements hieß es, ich habe das als Kind gelesen und ich werde das meinen Kindern vorlesen. Die verteidigen im Grunde eine nostalgische Kindheitserinnerung. Wahrscheinlich hatten 99 Prozent der Leute, die sich zu Winnetou äußern, in den letzten 40 Jahren kein Buch von Karl May mehr in der Hand. Ich selbst habe vor ein paar Jahren angefangen, die Bücher von Karl May wieder zu lesen, weil ich an einem Buch dazu schreibe. Und das war eine ernüchternde Erfahrung, weil mir das genau diesen nostalgischen Blick auf mein früheres, schönes Leseerlebnis kaputtgemacht hat.
Jürgen Zimmerer ist deutscher Historiker und Genozidforscher. Er ist Professor für Globalgeschichte mit Schwerpunkt Afrika an der Universität Hamburg und leitet die Forschungsstelle Hamburgs (post-)koloniales Erbe. Ulrike Wagener sprach mit ihm über koloniale Muster in den Büchern Karl Mays und den Umgang mit Shitstorms.
Sie hatten also auch diesen nostalgischen Blick?
Ja, natürlich hatte ich den auch. Und es ist interessant, sich damit auseinanderzusetzen. Man sollte Karl May nicht wegsperren. Auszüge von »Winnetou« oder dem Orientzyklus sollten in den Schulen gelesen werden und mit Lehrkräften diskutiert werden. Aber es ist kein ideales Jugendbuch im 21. Jahrhundert. Wird es auch nie werden, weil Jugendliche das gar nicht lesen. Und die Mädchen schon gar nicht, weil die nämlich nach 20 Seiten sagen, hey, was ist denn das für ein Frauenbild, das geht ja gar nicht. Also es ist eine reine Scheindebatte, die man analysieren muss.
Worum geht es dabei?
Es zeigt, dass wir uns in einem antiliberalen Rollback befinden. Für viele konservative Politiker*innen ist das eine Form von »Virtue Signalling«, das Zurschaustellen moralischer Werte für ihre Basis. Sie verteidigen die gute alte Zeit. Das ist weiße Identitätspolitik. Manche(r) Politiker*in sah eine Chance zu signalisieren, »Ich bin tough und konservativ.« Interessant ist, dass oft die Gleichen bei der Documenta zu den schärfsten Kritiker*innen gehörten. Dabei ist Karl May nicht nur voller rassistischer Beschreibungen, sondern auch mit antisemitischen Klischees durchsetzt.
Sie sind Genozidforscher. Können Sie aus dieser Perspektive erklären, was an den Büchern Karl Mays problematisch ist?
Zum einen ist es wirklich erstaunlich, dass er Ende des 19. Jahrhunderts von Völkermord an den Indianern spricht, das ist hellsichtig. Trotzdem normalisiert er den Genozid. Er pflanzt mit seinen Geschichten die Idee in die kollektive Mentalität ein, dass es mehr oder weniger »normal« ist, dass Völker einfach »untergehen« oder gar vernichtet werden. Das ist zwar bedauerlich im Falle Winnetous, aber es ist nicht aufzuhalten, weil das zum Fortschritt der Moderne dazugehört. Und zweitens, wenn man sich die Figuren der Helden anschaut, sind das alles deutsche Helden. Ich weiß nicht, wie viel Karl May Sie gelesen haben …
Nicht viel.
Dann versuche ich das zu erklären. Also, der Held im Orient heißt Kara Ben Nemsi. Kara bedeutet Schwarz und ist phonetisch an Karl angelehnt und Old Shatterhand ist im Prinzip auch der Karl aus Deutschland. Es ist die gleiche Person. Das ist ein kolonialer Superheld: Er kann besser schießen als alle anderen, besser Fährten lesen und spricht 1200 indianische Dialekte. In einer berühmten Szene aus den Orient-Bänden, da erklärt der Deutsche dem Beduinen den Koran. Denn natürlich kann er als Europäer das besser. Dieses koloniale Mindset, dass man als »Weißer«, als Deutscher zumal, alles besser kann, macht im Grunde die koloniale Ideologie im Kern aus.
Trotzdem wird immer behauptet, Winnetou sei nicht rassistisch, weil er als Indianer positiv gezeichnet sei.
Genau. Winnetou ist extrem positiv. Aber es gibt auch sehr viele indigene Figuren, die nicht positiv und extrem rassistisch gezeichnet werden. Und Winnetou ist eigentlich ein »roter« Preuße, ein Deutscher. Er hat all diese Tugenden und er findet seine Vollendung im Moment des Todes. In »Winnetou III« wird er erschossen. Er schützt seinen Blutsbruder und in seinen letzten Worten konvertiert er zum Christentum. Das ist quasi die Vollendung der Missionierung.
Er ist »gut integriert« sozusagen.
Ja, genau. Aber das ist doch der Punkt, er ist im Grunde deutsch. Einerseits heißt das: Ob man deutsch ist oder nicht, hängt nicht von der Hautfarbe ab. Das ist natürlich eine wichtige Aussage und deshalb ist Karl May mentalitätsgeschichtlich auch so eine unglaublich spannende Figur. Aber der Held Winnetou ist trotzdem nicht der Native American, der bei seiner Kultur und seinem Glauben bleibt, sondern es ist der, der im Moment des Todes seine Biografie vollendet und Christ wird. Gleichzeitig wird er mit seiner Kleidung mit den Lederfransen auch exotisiert.
Bei »Winnetou« ganz am Anfang steht so etwas wie: Immer, wenn ich an Indianer denke, fällt mir der Türke ein. Und dann spricht er von dem Türken als »kranken Mann« und dem Indianer als »sterbenden Mann«.
Genau, das ist eigentlich ein Wahnsinnssatz. Da beschreibt er ganz klar die genozidale Vernichtung. Und gleichzeitig befeuert er damit die ganzen anti-osmanischen Vorurteile vom Türken als »kranken Mann«, der nicht für sich selber sorgen kann. Jetzt muss man natürlich wissen, er schreibt das zu einer Zeit, wo die heutige Türkei und der Irak quasi als Halbkolonie des Deutschen Reiches angesehen wurden.
Also müsste man diese Bücher als Teil unseres kolonialen Erbes behandeln?
Ja, auf alle Fälle. Ich habe es mal die kolonialen Traumwelten des Wilhelminismus genannt. Karl May ist erst sehr spät nach Amerika gereist. Das heißt, er hat sich das einfach alles ausgedacht und sich im Grunde in die perfekte Kolonisatorenpose hineinfantasiert. Und das ist hunderttausendfach gekauft worden.
Die Idee von den Deutschen als den guten Kolonisatoren war auch nach 1945 verbreitet.
Ja, das war besonders in der Bundesrepublik der 60er Jahre ein ganz wunderbares Entlastungsargument. Die bösen Briten, die bösen Amerikaner, die bösen Finanziers von der amerikanischen Ostküste – wo im anderen Kontext zu Recht sofort die Antisemitismus-Alarmglocken läuten würden –, und die Deutschen waren die Guten. Endlich ein Genozid, mag mancher gedacht haben, wo die Deutschen nicht die Täter, sondern die Retter waren.
Sie sagen, man kann dieses Werk nicht adaptieren. Warum?
Die Debatte um problematische Begriffe und rassistische Sprache, die gibt es öfter. Bei »Pippi Langstrumpf« oder den Büchern von Enid Blyton, da geht es um einzelne Begriffe und einzelne Bilder. Die kann man ändern. Aber diese koloniale Fortschrittsideologie als Normalzustand, das ist die DNA von Karl May. Solange man die Geschichte von Winnetou und Old Shatterhand erzählt, erzählt man immer auch die Geschichte einer Invasion, in der einer der Invasoren ein Guter ist.
Zurück zum inszenierten Shitstorm. Wie sollte man mit so etwas umgehen, sollte man die Diskussionen lieber ignorieren? Man befeuert sie ja auch, indem man darüber redet.
Ich glaube, man muss schon dagegenhalten, weil der rechtspopulistische Shitstorm ist ja da. Die Leute, die nicht sofort mit einstimmen, sollten sich wissenschaftlich fundiert informieren können. Und wenn ich nicht widerspreche, gibt es plötzlich nur noch eine Meinung. Eine Gesellschaft, in der man Autoren nicht mehr kritisieren darf, ist eine illiberale Gesellschaft. Man muss sagen dürfen: Das ist ein Kolonialist, das ist ein rassistischer Autor. Der verkauft ein Frauenbild, das nicht mehr zeitgemäß ist und das ist kein Jugendbuch mehr im 21. Jahrhundert. Das ist nur noch ein historisches Dokument. Und historische Dokumente soll man nicht wegsperren, das ist meine feste Überzeugung. Aber es ist ein historisches Dokument und nicht ein über alle Zweifel erhabenes moralisches Höchstleistungswerk.
Wir behalten den Überblick!
Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.
Vielen Dank!