- Kultur
- Rassismus in der Philosophie
Die Aufklärung bis ans Äußerste treiben
Andrea Esser und Hannah Peaceman sprechen im Interview über Rassismus, Sexismus und Antisemitismus in der klassischen Deutschen Philosophie
Frau Esser, was bedeutet es für uns heute, dass etwa ein Philosoph wie Kant sich im 18. Jahrhundert rassistisch geäußert hat?
Prof. Andrea Marlen Esser leitet den Arbeitsbereich Praktische Philosophie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena sowie das DFG-geförderte Forschungsvorhaben »Wie umgehen mit Rassismus, Sexismus und Antisemitismus in Werken der klassischen Deutschen Philosophie?«.
Dr. Hannah Peaceman ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Arbeitsbereich und Geschäftsführerin des Forschungsprojekts.
Andrea Esser: Die kurze Antwort ist, dass Kant eine Autorität unserer Geistes- und Philosophiegeschichte darstellt. Wenn sich ein solcher Klassiker rassistisch, sexistisch oder antisemitisch äußert, dann ist das insofern nicht zu vernachlässigen, als dass wir diese Autorität heute immer noch rezipieren. Es sind Äußerungen, auf die man sich beziehen kann, auch um entsprechende Ideologien weiter zu stützen: Na, schon der große Kant hat ja gesagt… Darin liegt das Nichtvergangene an seinen Aussagen.
In den letzten Jahren gab es eine rege Debatte zur Frage »War Kant ein Rassist?«, die auf dieses Nichtvergangene hinweist. Zugleich liegt darin eine gewisse Symptomatik, wie heute öffentliche Debatten geführt werden. Die Frage suggeriert ein eindeutiges Urteil und führte dann auch zu sehr polarisierten Positionen, die einerseits als sogenannte Cancel Culture und andererseits als Verteidigung einer abstrakten Wissenschaftsfreiheit verhandelt wurden. Welche gesellschaftliche Bedeutung rechnen Sie der kritischen Auseinandersetzung mit dem kulturellen Erbe und diesen Autoritäten zu?
Esser: Das bringt es in etwa auf den Punkt. Diese Diskussion steht nicht isoliert, wir finden ähnliche Debatten in verschiedenen Bereichen. Und ja, sie zeichnen sich durch so etwas wie Extrempositionen aus, durch Vereinfachungen und auch eine Emotionalisierung. Ich sehe dabei vor allem folgendes Problem: Die Frage, ob Kant, Hegel oder XY ein Antisemit, Rassist oder Sexist gewesen ist, verengt die Auseinandersetzung mit dem Thema von vornherein auf die jeweilige Person. Das hat weitreichende Konsequenzen, denn es scheint dann so, als seien Rassismus, Sexismus oder Antisemitismus vor allem Probleme von Individuen und deren persönlichen Fehltritte. Damit verkennt man aber, dass es sich um überindividuelle Ideologien handelt, die erst in der Interaktion zwischen Personen entstehen. Diese Ideologien sind traditions- und strukturbildend und – das ist wichtig – man muss sich klarmachen, dass sie damit bis in unsere Gegenwart reichen und diese prägen. Wenn wir nur fragen, ob Kant ein Rassist war, blendet das genau diesen Gegenwartsbezug aus.
Aber es würde auch nicht helfen, wenn wir Kant, Hegel und die klassischen Philosophen einfach nur als Träger gesellschaftlicher Strukturen und deren Ideologie betrachten, oder? Beides – das moralisch eindeutige Urteil über Personen wie auch die Reduktion auf Strukturen – scheint vom Problem wegzuführen und eher eine entlastende Funktion für die Diskutierenden zu erfüllen.
Esser: Genau, wir wollen die damaligen Einstellungen nicht entschuldigen und die jeweiligen Personen historisieren. Aber, wenn Sie so möchten, in gewisser Hinsicht muss man eben beides machen: einerseits ausloten, inwiefern diese Autoritäten Ausdruck eines sogenannten Zeitgeists sind, und andererseits aufzeigen, dass dieser gar nicht so homogen oder zwingend war. Es ist eine falsche Vorstellung, zu denken, dass im 18. Jahrhundert alle rassistisch, sexistisch und antisemitisch gewesen seien. Gerade in der Diskussion zur Zeit Kants gab es umfangreiche Kritik an der Art und Weise, wie andere Völker etwa in Reiseberichten dargestellt wurden. Und zum Antijudaismus gibt es ebenso eine differenzierte Diskussion. Wir können also nicht so tun, als hätten nur wir heute eine differenzierte Auseinandersetzung – was ja gerade vor dem Hintergrund aktueller Diskussionen fragwürdig ist – während damals nur in homogenen Zusammenhängen gedacht wurde.
Was ist dann also die Aufgabe der Philosophie?
Hannah Peaceman: Ein wichtiger Teil unseres philosophischen Projekts ist der sozialgeschichtliche Blick auf die Debatten der Zeit. Dieser zeigt sehr schnell, dass sich die Positionen der Philosophen auch über die Zeit verändert haben. Manche haben sich in ihren Frühschriften noch eindeutig antijüdisch und antisemitisch geäußert, dies aber später revidiert, oder sind für bürgerliche Rechte für Juden eingetreten.
Diese Differenzierung ist wichtig, denn sie erhebt auch Einspruch gegen die Tendenz zu dem, was eben als Extrempositionen bezeichnet wurde: Etwa wenn heute – überspitzt formuliert – die einen sagen, Philosophie habe nichts mit Politik zu tun. Und die anderen sagen, wir dürften die Philosophen nicht mehr lesen, weil sie rassistisch, sexistisch oder antisemitisch sind. Denn die interessantere Frage liegt ja vielmehr dazwischen: Wie gehen wir damit um, dass Philosophie sowohl zur Legitimation von Ideologie beiträgt und zugleich das Potenzial hat, diese Ideologien und sich selbst zu kritisieren?
Hat die Philosophie dann eine Vermittlerrolle?
Peaceman: Es gibt diese Vorstellung, dass die Philosophie die öffentlichen Debatten belehren würde und damit eigentlich über ihnen stehe. Aber unsere Perspektive zielt eher darauf ab, diesem Selbstbild der Philosophie nicht auf den Leim zu gehen. Ich würde sagen, die Philosophie ist in die gesellschaftlichen Konflikte involviert. Sie behauptet zwar, dass sie mit den politischen Verhältnissen nichts zu tun hat, dass sie nur über Begriffe aufklärt und der Rest dann eben Problem der Gesellschaft und der Politik sei. Aber dieses unpolitische Selbstverständnis ist oft nur der Ausdruck unausgesprochener oder uneingestandener politischer Prämissen. Philosophie kann sich so zwar gegen Kritik immunisieren, aber sie stabilisiert damit gleichzeitig die Ideologien. Und ich würde sagen, an diesem Zusammenhang, an diesem Widerspruch muss unsere Arbeit anfangen. Die Selbstkritik ist für unser Forschungsvorhaben ein bedeutender Anspruch.
Esser: Das ist wirklich ein wichtiger Punkt. Philosophie als kritische Wissenschaft kann sich nicht aus den politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen katapultieren, als sei sie eine neutrale Aufklärung der Verfehlungen aus der Vergangenheit. Natürlich brauchen wir die Reflexion, sie ist das einzige, wie soll man sagen: Mittel, mit dem wir etwas über uns selbst und unsere Prägungen und Unfreiheiten erfahren können. Aber wir dürfen nicht davon ausgehen, dass alles schon reflektiert ist, was die Philosophie so zu bieten hat. Sie ist in dieser Hinsicht keineswegs fertig oder abgeschlossen.
Das ist ja auch das Problem, um noch einmal zur Ausgangsfrage zurückzukehren, an der aktuellen Diskussion: Die Frage, ob XY ein Rassist war, macht diese Komplexität der Zusammenhänge einfach zu. Sie zielt auf eine Entweder-Oder-Entscheidung, einen Abschluss. Und darin liegt das polarisierende und sicher auch emotionalisierende Potenzial dieser Frage. Denn damit befürchten alle, sie dürften dann nichts mehr: nicht mehr Kant lesen, nicht mehr die Ideale der Aufklärung hochschätzen. Der Schluss von einem Urteil zu den Konsequenzen wird dabei als ganz selbstverständlich gezogen. Dabei ist dieser alles andere als trivial.
Wie sehen die Untersuchungen und die Selbstreflexion in der konkrete Arbeit Ihres Forschungsprojekts aus?
Esser: Tatsächlich haben wir ganz konkrete Ziele. Wir wollen erst einmal versuchen, die Grundlagen einer selbstkritischen Philosophiegeschichte auszuloten. Das heißt also, Rassismus, Antisemitismus und Sexismus in den historischen und gesellschaftlichen Konstellationen herauszuarbeiten. Darüber hinaus wollen wir kommentierte Textsammlungen und Material für die Forschung, universitäre Lehre und den Schulunterricht bereitstellen, die begleitet sind von Interpretationsvarianten und exemplarischen philosophischen Argumentanalysen. Das ist enorm wichtig, denn die Leute kommen jetzt schon auf uns zu und fragen nach solchen Materialien. Viele haben selbst nicht die Zeit, sich in die Thematik einzuarbeiten, wollen sich aber in ihrem Rahmen damit auseinandersetzen. Wenn man diese Themen nicht nur wie in Schwarz-Weiß und schlagwortartig behandeln will, ist es das Beste, die Probleme und Argumente an einem konkreten Beispiel zu entfalten.
Auch frühere Diskussionen – es gab schon in den 1980er Jahren eine Welle der Forschung dazu –, die zum Teil einfach wieder abgeebbt sind, haben uns auf den Gedanken gebracht, dass es andere Formate braucht als einfach nur die Belehrung durch die Philosophie. Wir wollen stattdessen etablierte Denk- und Praxisformen des Philosophierens irritieren. Ein relativ banales Beispiel für solche Irritation ist der Lückentext: »Wenn du zum … gehst, vergiss die Peitsche nicht«. Das ist ein freies Zitat nach Nietzsche. Die meisten, die es hören, können die Lücke ohne Probleme ersetzen und damit erfahren, dass sie selbst über solches, in diesem Fall sexistisches, Wissen verfügen.
Peaceman: Ein wichtiger Aspekt unseres Projekts ist auch die Frage nach dem Verhältnis von Philosophie und Öffentlichkeit. Wenn Philosophie gegenüber den öffentlichen Debatten nicht einfach als Expertin auftritt, was kann sie dann in und mit der Öffentlichkeit eigentlich erarbeiten und lernen? So geht auch unser Projekt von politischen Ereignissen, etwa antirassistischen Protesten, aus, die in die Philosophie hineingewirkt haben. Unser Ziel ist es, in praktischen Formaten genau diesen Austausch in Gesprächssituationen und Zusammenkünften voranzubringen. Es geht uns um ein Konzept methodisch reflektierter Public Philosophy, zu der es dann auch eine Monographie geben soll.
Wie kann man sich eine solche Public Philosophy vorstellen?
Peaceman: Ein Vorbild ist etwa das, was vor einigen Jahren in Jena als Public Sociology im Rahmen des Postwachstums-Kollegs erprobt wurde. Dabei wurde nach dem Verhältnis von Soziologie, Gesellschaftskritik und linker Bewegung gefragt, mit dem Ziel, die Rolle der Soziologie genauer zu bestimmen. Auf eine vergleichbare Weise ließe sich fragen, was denn das Spezifische an der Philosophie ist, was sie vor dem Hintergrund unserer Fragestellungen eigentlich tun kann.
Einen Anhaltspunkt dafür haben wir zum Beispiel in der Auseinandersetzung um die Büste des deutschen Philosophen Jakob Friedrich Fries (1773–1843), die am Institut für Philosophie der Universität Jena verhüllt wurde. Zuvor war im Stadtrat in Jena eine Diskussion um eine Straßenumbenennung geführt worden. Protest regte sich, weil J. F. Fries eindeutig antisemitische Schriften verfasst hatte, aber trotzdem Anfang der 2000er Jahre am Institut eine Büste von ihm aufgestellt wurde und es eben eine Straße gibt, die seinen Namen trägt.
Esser: Wir haben den Protest zum Anlass genommen, um mit Studierenden das Thema im Rahmen eines Seminars »Reflektierter Aktivismus« zu bearbeiten. Mit viel Aufwand haben wir dazu die komplexe Homepage »Erinnern gestalten« (https://erinnerngestalten.uni-jena.de) aufgebaut. Die Studierenden haben Interviews mit Personen geführt, die verschiedene Positionen vertreten und die Website ermöglicht es, unterschiedliche Perspektiven sichtbar zu machen. Es gab sogar einen kleinen Wettbewerb zu Vorschlägen, was man mit der Büste machen könnte: Soll man sie abbauen? Soll man sie ersetzen? Künstlerisch umgestalten? Das zeigt eine Richtung, in die wir gehen wollen, nämlich klar zu machen, dass Philosophie auch Praxis bedeutet.
Ihr Projekt schließt offensichtlich an die großen Fragen von Theorie und Praxis an. Dabei gibt es ja aber nicht nur die Tendenz, dass die Philosophie die politische Praxis belehrt. Manchmal werden politische Bewegungen auch zu einer Projektionsfläche, wo die Theorie oder Philosophie an ihre Grenzen oder Widersprüche kommt. Die gute Bewegung, die scheinbar schon die Antworten parat hat, soll es dann richten. Schließt ihre Perspektive auch eine Kritik der Praxis ein?
Esser: Ja, auch das ist ein wichtiger Punkt. Die Selbstkritik der Philosophie soll es im besten Fall auch ermöglichen, über diese Trennung von Theorie und Praxis hinauszukommen. Und damit auch über die Vorstellung, dass wir alles schon kritisch reflektiert hätten und es dann eine Bewegung gäbe, die wir gut finden und die jetzt alle Fragen beantworten und alle Probleme lösen soll. Das wäre genau das Gegenteil von einem reflektierten Aktivismus, bei dem Theorie und Praxis wirklich Hand in Hand arbeiten. Das schließt eine Kritik der Praxisformen mit ein. Wir können ja zum Beispiel schlecht eine Grafikerin oder einen Grafiker damit beauftragen, die theoretischen Erkenntnisse einfach umzusetzen. Das wäre eine völlig naive Vorstellung davon, was Praxis überhaupt ist. Darum geht es uns eigentlich: diese selbstverständliche Unterscheidung von Theorie und Anwendung kritisch zu reflektieren und die Momente miteinander zu vermitteln.
Gewissermaßen setzen Sie sich damit zwischen die Stühle und ich kann mir vorstellen, dass sie sich auf allen Seiten unbeliebt machen – sowohl in der eher konservativen Philosophie wie auch bei einer aktivistischen Szene, die Sie zur Reflexion anhalten.
Esser: Das ist uns in gewisser Hinsicht klar (lacht). Das passiert, wenn man politisch wird. Es sind umkämpfte Themen und wir müssen aufpassen, dass wir uns von keiner Seite vereinnahmen lassen, die wir vielleicht sympathischer finden. Denn in jedem Lager gibt es die Gefahr, das Kind mit dem Bade auszuschütten.
In manchen Seminaren konnte ich das ganz gut beobachten. Es gibt unter den Jüngeren einerseits sehr engagierte Personen, die bei einer extremen Position landen und sagen, wir wollen mit den rassistischen, sexistischen, antisemitischen Philosophien überhaupt nichts mehr zu tun haben. Aber das ist auch keine reflektierte Haltung, sondern eine absolute, die der Selbstkritik im Wege steht. Wir werden die Probleme der Tradition nicht los, indem wir sie negieren oder per Dekret lösen. Auf der anderen Seite gibt es auch jene Studierenden, die sich gar nicht mehr herauswagen und aus Angst vor Fehltritten nicht mehr sprechen. Darin spiegelt sich auch die Polarisierung und Moralisierung öffentlicher Debatten wider. Und ich denke, wir müssen wirklich aufpassen, dass die Diskussionen und die kritische Auseinandersetzung, die es in der Öffentlichkeit dringend braucht, nicht am Ende verstummen und die Probleme in der Sache dann unter die Oberfläche wandern, wo sie unbemerkt und unreflektiert bleiben. Das sind natürlich nur meine persönlichen Eindrücke, aber sie deuten auf Momente hin, die wir reflektieren und auf dem Schirm haben wollen.
Peaceman: Ich glaube, dass dafür die Arbeit am konkreten Problem wichtig ist. Wenn man Widersprüche oder Konflikte konkret thematisiert und die verschiedenen Perspektiven darauf, deren Hintergründe und Funktionen sichtbar macht, dann führt das oft weiter, als es auf einer allgemeinen Ebene zu belassen. Das ist vielleicht auch eine Art methodischer Perspektive für uns: Wenn wir an Beispielen arbeiten, können wir differenzieren. Und darum geht es uns.
Das Problem, das Sie, Frau Esser, gerade angesprochen haben, findet sich auch in aktuellen Debatten wieder. Allerdings dient der Verweis auf Cancel Culture und Wissenschaftsfreiheit dort von rechter Seite eher der Abwehr von Kritik. Das läuft eigentlich jenem Anspruch der Aufklärung zuwider, auf den sich da lauthals berufen wird. In welchem Verhältnis zur Tradition der Aufklärung sehen Sie Ihr Projekt? Geht es um eine kritische Fortführung oder steckt da etwa der Dualismus der Extrempositionen oder so etwas wie Eurozentrismus unrettbar drin?
Esser: Das ist natürlich eine unheimlich komplexe Frage (lacht). Okay, also erst einmal sind wir im Projekt ja mehrere Personen, die sicher nicht alle denselben philosophischen Hintergrund teilen. Und das ist auch wichtig. Aber ja, die Aufklärung… In der Tat gibt es deren ernstzunehmende Momente der Selbstreflexion. Aber das würde eben auch eine kritische Reflexion zum Beispiel über die eurozentristischen Formen ihrer Grundbegriffe wie Vernunft, Handlung oder Würde mit einbeziehen. Theoretisch ermöglicht die formale Idee der Aufklärung eine solche auf Dauer gestellte kritische Selbstreflexion und eine gewissermaßen globale Dimension des Denkens. Aber de facto ist es natürlich nicht so gewesen. Darum muss auch die Aufklärung sich noch einmal aufklären und – das ist uns ein wichtiger Punkt – das kann sie nicht einfach alleine. Wir glauben, dass es dazu den realen Austausch und die Erfahrungen auch mit anderen braucht.
Peaceman: Vielleicht kann man es auch so sagen: Wir wollen das Ideal der Aufklärung bewahren, aber immer nur unter der Bedingung, dass wir die Kritik daran bis ins Äußerste treiben, und zwar ganz praktisch.
Da habe ich Sie jetzt zu den ganz großen Fragen gedrängt… Um vielleicht wieder etwas konkreter zu werden: Sie stellen in Ihrem Projekt Rassismus, Sexismus und Antisemitismus in den Mittelpunkt der philosophischen Selbstreflexion. Aber wie begreifen Sie deren Verhältnis? Es gibt ja durchaus Diskussionen darum, etwa in der Intersektionalitätsdebatte, ob diese Momente eigentlich vergleichbar sind und sich derart analogisieren lassen? Und dann gibt es auch die Frage, ob wir unsere heutigen Vorstellungen etwa von Rassismus einfach so an die Vergangenheit anlegen können.
Esser: In der Tat haben wir die Definitionen von Rassismus, Sexismus und Antisemitismus im Vorfeld des Projekts noch ein wenig unbestimmt gelassen. Und zwar deshalb, weil wir es für eine der größten Gefahren hielten, dass man drei abstrakte Definitionen entwirft und dann alles darunter subsumiert. Unser ganzes Projekt richtet sich ja gegen ein solches Vorgehen. Wir versuchen gerade, solche Umgangsformen als Subsumptionsbegriffe aufzubrechen. Für uns sind es Reflexionsbegriffe für die »Urteilskraft«, wie es bei Kant und Hannah Arendt heißt.
Nehmen wir etwa den Begriff des Rassismus. Dieser hat sich über die Zeiten gewandelt, auch in seinem Selbstverständnis, und wird sich weiter wandeln. Es wäre also ein völlig unhistorisches Vorgehen, das heutige Verständnis einfach in die Geschichte zurückzuprojizieren. Auch in Bezug auf die Analogisierungen zwischen Rassismus, Sexismus und Antisemitismus sind wir sehr zurückhaltend. Das Einzige, was wir bis hierhin festgehalten haben, ist, dass es alles drei Ideologien sind, die gesellschaftlich reproduziert werden und die alle drei ihrerseits traditionsbildend sind.
Peaceman: Auch hier ist es eine Frage des Umgangs. Wenn wir uns zum Beispiel konkrete Debatten der damaligen Zeit anschauen, in denen es etwa um jüdische Emanzipation oder eben um die Verweigerung von Staatsbürgerrechten ging, dann können wir sehr konkret herausarbeiten, was unter dem Antijudaismus und später dem modernen Antisemitismus zu verstehen ist. Aber das lässt sich dann eben nicht ungebrochen auf unsere heutige Lebensrealität oder auf andere Kontexte übertragen. Gleichzeitig liegt in diesem exemplarischen Arbeiten auch die Chance, etwas zum komplexen Verhältnis von Antisemitismus und Rassismus in dem jeweiligen Kontext zu sagen. Was sind die Unterschiede und auch die konkreten Überschneidungen, welche Funktion hatten diese Ideologien zur Stabilisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse?
Gegenwärtig gibt es ja sehr lebhafte Debatten in der politischen Philosophie in Deutschland um das Thema Rassismus in der Philosophie und vor allem die Ansätze der Critical Race Theory aus dem US-amerikanischen Raum. Dabei wird immer wieder die Frage gestellt, ob sich diese Theorien auf den spezifischen deutschen Kontext übertragen lassen. Zugleich wird darauf verwiesen, dass dies aufgrund von Nationalsozialismus, Antisemitismus und Shoah besonders schwierig und kompliziert sei. Für uns deutet das dann genau auf das Problem, auf das wir schauen müssen: Wir befinden uns in einem spezifischen historischen Kontext des Postnationalsozialismus und des Postkolonialismus, den wir nicht auslassen können und der auch die Philosophie und das Philosophieren hier geprägt hat. Wir wollen da anfangen, wo es schwierig und kompliziert wird.
Esser: Genau deshalb können wir nicht einfach sagen, dass wir jetzt diese schon weit fortgeschrittene differenzierte Debatte aus den USA oder diese Definition von Rassismus nehmen und sie übertragen. Wir müssen die Begriffe aus der jeweils spezifischen philosophischen und gesellschaftlichen Tradition heraus entwickeln.
Das ist keine leichte Aufgabe, die Sie sich damit gestellt haben.
Esser: So ist es, ja. Wir fangen mal an (lacht).
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