Im Zentrum Berlins für Freiheit statt Sicherheit

15 000 Bürger demonstrierten gegen den Überwachungsstaat / Massive Polizeiübergriffe auf Teile des Aufzugs

  • Martin Kröger
  • Lesedauer: ca. 2.5 Min.

Über 50 Organisationen hatten zur bundesweiten Demonstration gegen Vorratsdatenspeicherung, Onlineüberwachung und Bundestrojaner in die Hauptstadt gerufen. Herauskam eine der größten Manifestationen gegen schnüffelnde Staatsstrukturen seit den Volkszählungsprotesten in West- und dem Sturz der SED-Politbürokratie 1989 in Ostdeutschland.

Wolfgang Schäuble ist überall. Hunderte Teilnehmer an der Demonstration unter dem Motto »Freiheit statt Angst - Stoppt den Überwachungswahn!«, die von über 50 Gruppierungen organisiert wurde, tragen eine Gesichtsmaske des Bundesinnenministers. Andere zeigen ein schwarz-weißes Konterfei Schäubles mit dem Untertitel »Stasi 2.0« auf Pullovern, Aufklebern und Stickern. Auf mehreren Transparenten ist Wolfgang Schäuble mit Erich Mielke vereint abgebildet. Viele Teilnehmer haben zudem aus Pappe selbst gebastelte Kameras mitgebracht. Nach Veranstalterangaben sind mehr als 15 000 Menschen gekommen, um ihre Sorge gegen die Verschärfungen in der Sicherheitsgesetzgebung zum Ausdruck zu bringen: Das Bündnis, das sich hierfür zusammengefunden hat, reicht von Datenschützern, Computeraktivisten, Ärzten, Journalisten und Gewerkschaftern, den Oppositionsparteien im Bundestag bis zu Attac und linksradikalen Gruppen. Allen gemeinsam ist die Sorge um die immer rigideren Vorschläge zur Ausspionierung von Bürgern, die sich in den Gesetzesvorschlägen zur Vorratsdatenspeicherung, dem Einsatz von Bundestrojanern zur Onlineüberwachung von Computern und der Einführung von biometrischen Erkennungsmerkmalen in Ausweisen und Pässen oder der Anwendung des Terrorismusparagrafen 129 des Strafgesetzbuches wiederfinden. Vom Brandenburger Tor bis zum Roten Rathaus und zurück zieht der bunte Aufzug durch die historische Mitte Berlins, immer wieder ob der Größe und der vielen geschmückten Wagen erstaunt betrachtet von flanierenden Touristen oder Pfadfindergruppen, die derzeit beim Bundespräsidenten eingeladen sind. »Ich bin gerade aus München zu Gast und habe mich spontan entschlossen, an der Demonstration teilzunehmen«, erzählt Holger Wagner. Der Student findet es wichtig, darauf aufmerksam zu machen, »was mit den Daten passiert und wofür sie verwendet werden«. Eigentlich habe er ein versprengtes Häuflein erwartet, sagt Wagner. Dass es viele Tausende sind, überrascht ihn. Warum sich so viele Menschen für das Thema »Verschärfung innere Sicherheit« interessieren, könnte damit zusammenhängen, dass immer mehr Berufsgruppen direkt von den Auswirkungen der neuen und der bereits eingeführten gesetzlichen Verschärfungen betroffen sind. »Die robuste Pressefreiheit wird auf dem Altar der Terrorismusbekämpfung geopfert«, sagt Ulrike Maerks-Franzen von der Deutschen Journalisten Union auf der Bühne zum Demonstrationsauftakt vorm Brandenburger Tor. Angesichts der Vorratsdatenspeicherung sei es künftig für Journalisten unmöglich, den Informantenschutz aufrechtzuerhalten. Ähnliche Bedenken hegen Ärzte. Martin Kranduszus, Vorsitzender der Freien Ärzteschaft, sieht das Vertrauensverhältnis zu den Patienten in Gefahr. »Mit dem Abhören von Telefonen in Arztpraxen wird man kaum terroristische Machenschaften aufdecken«, ruft der Hausarzt aus Düsseldorf der versammelten Menge zu. Vielmehr droht eine Obrigkeit, die vorschreibt, wie Patienten künftig zu behandeln seien. Dafür stehe auch das Projekt »elektronische Gesundheitskarte«, die ab dem nächsten Jahr eingeführt werden soll. Statt die Gesundheitsversorgung zu verbessern, sei die Chipkarte vielmehr der Schlüssel zur Zentralisierung der Daten im Internet, meint Kranduszus. Dass hinter den verschiedenen Projekten eine Gesamtstrategie steckt, vermutet Pedram Shayar vom Attac-Koordierungskreis: »Teile des konservativen Lagers planen einen paradigmatischen Wechsel, um demokratische Rechte abzubauen.« Letztendlich gehe es um die zentrale Frage, welche politische Kultur sich in diesem Land durchsetzen werde. Welche politische Kultur die Berliner Bereitschaftspolizei pflegt, bewies sie gegen Ende der Demo. Obwohl es keinerlei Vorfälle seitens der Teilnehmer gab, griffen Polizeieinheiten mehrmals in Höhe des Palastes der Republik und der Humboldt-Universität den großen antikapitalistischen Block an: mit Fußtritten, Faustschlägen und massivem Einsatz von Pfefferspray. Dutzende Verletzte mussten versorgt werden, die Veranstalter aus den linken Gruppen brachen den Aufzug vorzeitig ab. Bereits der Beginn der Demonstration hatte sich verzögert, weil sich eine Gruppe nicht durch Vorkontrollen begeben wollte und deswegen eingekesselt wurde. »Wer sich nicht kontrollieren lassen will, ist...

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