Nachschub für den Fleischwolf

Der Kreml will weitere 300 000 junge Männer gegen ihren Willen in einen sinnlosen Krieg schicken

  • Daniel Säwert
  • Lesedauer: 4 Min.
»Tradition zu siegen«, steht auf dem Plakat. Daran glauben viele Russen nicht und versuchen, der Mobilisierung zu entkommen.
»Tradition zu siegen«, steht auf dem Plakat. Daran glauben viele Russen nicht und versuchen, der Mobilisierung zu entkommen.

Immer wieder wurde in den vergangenen Monaten über die Mobilmachung für Russlands Krieg in der Ukraine spekuliert und jedes Mal dementierte der Kreml die Gerüchte. Seit Mittwoch steht fest: Zum dritten Mal nach 1914 und 1941 hat eine russische Regierung die Mobilmachung ausgerufen. 300 000 zusätzliche junge Männer will Präsident Wladimir Putin bei seiner Invasion des Nachbarlandes verheizen.

Bereits am Dienstag gab es ernsthafte Befürchtungen, der Kreml könne zum Waffengang rufen, nachdem die Duma die Begriffe »Mobilisierung« und »Kriegszeit« rechtlich definiert und weitere kriegsverwandte Themen diskutiert hatte. In Moskau wurde zudem eine Anwerbestelle für Ausländer eingerichtet. Dass nun hunderttausende zusätzliche Russen eingezogen werden sollen, sorgte vor allem beim politischen Establishment für Begeisterungsstürme. »Jede Generation von Russen sollte nicht nur ihr 1941, sondern auch ihr 1945 haben« sagte Gennadij Sjuganow und forderte den Sieg gegen die »Nazis in der Ukraine«. Schon vor Tagen hatte der Kommunistenführer die Mobilmachung gefordert. Auch viele Gouverneure freuten sich über die Entscheidung. In St. Petersburg übernahm Andrej Beglow die Leitung der örtlichen Mobilisierungskommission.

Wer, wie, wo: Vieles ist bisher unklar

Wer genau demnächst in den Krieg geschickt werden könnte, ist noch absolut unklar. Der Leiter der Menschenrechtsorganisation Agora, Pawel Tschikow, weist in seinem Telegram-Kanal darauf hin, dass der Erlass absolut schwammig formuliert ist. Die von Vertidungsminister Sergej Schoigu genannten 300 000 tauchen in dem Dokument nicht auf. Erwähnt werden lediglich »Männer mit militärischer Erfahrung«. Und das sind in Russland 25 Millionen, erklärt der Militärexperte Pawel Lusin. Auch Auflistungen mit Personengruppen, die in der ersten Welle mobilisiert werden, helfen nicht weiter. Denn auch hier ist nicht klar, was das Verteidigungsministerium unter »militärverwandten Berufen« versteht.

Am Nachmittag verkündete ein Militärvertreter, man wolle in erster Linie Männer aus dem West- und Zentralrussland einziehen. Bisher wurden nach russischen Medienangaben überwiegend Männer aus armen Regionen in Sibirien und dem Kaukasus in die Ukraine geschickt. Ein weiterer ungeklärter Punkt ist die Zeitspanne. Die ist laut Lusin nicht definiert. Die Mobilisierung könne sich also über Monate ziehen, so der Militärexperte. Zudem sieht er soziale, wirtschaftliche und organisatorische Probleme. Die Russen wollen nicht kämpfen, die ökonomischen Mittel begrenzt und weder Armee noch Verwaltung können die Mobilisierung momentan organisieren.

Bereits am ersten Tag von Putins neuer Kriegskampagne gab es Berichte über bevorstehende Einberufungen. Russland größtes Finanzinstitut Sberbank veröffentlichte am Mittag eine Bekanntmachung, dass Mitarbeiter für den Kriegsdienst abgestellt werden. In der gosuslugi-App, mit der Russen ihre bürokratischen Angelegenheiten verwalten, erhielten mehrere Männer die Nachricht, bald Post vom Wehramt zu erhalten. Im Netz kursierten Bilder, die Stapel voller Einberufungsbescheide aus St. Petersburg zeigen. Die Nachrichtenseite »Daily Storm« berichtet von einem Moskauer, dessen Betrieb ihn beim Wehramt gemeldet hatte. Er habe am Mittwoch mehrere Stunden dort verbracht, um Auskunft über sich zu geben. Das Amt sei voll gewesen, so der Mann. Die meisten seien gekommen, um sich vom Wehrdienst befreien zu lassen.

Flugtickets gibt es kaum noch

Viele junge Männer versuchen derweil, Russland zu verlassen. Am Morgen hatten sich Gerüchte verbreitet, Grenzen würden geschlossen und Bahn und Airlines würden Papiere von der Armee verlangen zur Beförderung verlangen. Noch aber kann man sich frei bewegen. Wer sich ins Ausland absetzen will, hat aktuell schlechte Karten. Lettland etwa schloss humanitäre Visa für Kriegsverweigerer aus. Und Flugtickets in visafreie Länder wie die Türkei, Armenien oder Belarus waren binnen kurzer Zeit ausverkauft. Aus Sibirien wird von langen Schlangen an der mongolischen Grenze berichtet.

Für den Abend riefen Opposition und Menschenrechtsgruppen zu Protesten auf. Während die Polizei in Moskau und St. Petersburg tagsüber Teile des Zentrums absperrte, gingen in vielen sibirischen Städten Menschen auf die Straße, um gegen die Mobilisierung zu demonstrieren. Vielerorts kam es zu Verhaftungen. Sollten sich die Proteste ausweiten, könnte dies das Ende Putins bedeuten, prognostizieren mehrere russische Politikwissenschaftler.

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