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Zurückfordern statt Fördern
Ein für das Land NRW brisantes Urteil hat weitreichende Folgen: Soloselbständige müssen die Corona-Soforthilfen nicht zurückzahlen
Jene Bescheide, mit denen das nordrhein-westfälische Wirtschaftsministerium gezahlte Corona-Soforthilfen für Soloselbständige und Kleinunternehmen zurückgefordert hat, sind rechtswidrig. Das entschied das Verwaltungsgericht Düsseldorf Mitte August in einem wegweisenden Musterverfahren zugunsten dreier Kläger*innen. Prozessiert hatten der Inhaber eines Schnellrestaurants, die Betreiberin eines Kosmetikstudios sowie ein Steuerberater, der seine Einkünfte überwiegend mit der Aus- und Fortbildung von Berufskolleg*innen erwirtschaftet. Tausende weiterer Verfahren auch bei anderen regionalen Gerichten stehen noch aus, sie könnten mit einem ähnlichem Ergebnis enden.
Das »größte Hilfsprogramm in der Geschichte des Landes«, wie es die Pressestelle des zuständigen Ministeriums nannte, ist damit endgültig zur Farce geworden. Insgesamt sollten 430 000 Kleinstbetriebe von den Maßnahmen profitieren, die einen finanziellen Gesamtumfang von 4,5 Milliarden Euro betrugen. Die Zahl klingt hoch, ist aber in der Rückschau schlicht falsch und erzeugt ein schiefes Bild. Denn die meisten Antragstellenden müssen mindestens 7000 der zugesagten 9000 Euro zurückzahlen. Magere 2000 Euro durften jene, die ihren Antrag früh genug gestellt hatten, zur Kompensation der durch die Corona-Maßnahmen verursachten Einkommensverluste nutzen. Den Musiker*innen, Messebauer*innen oder kleinen Lichttechnikfirmen, die der besonders hart getroffenen »Veranstaltungswirtschaft« zuarbeiten, half das nur wenig: Zum Teil waren sie über Monate hinweg mit einem Totalausfall ihrer gewohnten Einkünfte konfrontiert.
Gigantische Fehlsteuerung
Eine ganze Branche, die mit rund 1,5 Millionen Menschen mehr Leute beschäftigt als die deutsche Autoindustrie, wusste nicht, wie sie die Krise überstehen sollte. In den Corona-Jahren 2020 und 2021 habe sich die Lage von soloselbständigen Erwerbstätigen deutlich verschlechtert, heißt es im letzten Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes. Jeder dritte Befragte erklärte, in der Pandemie seine Tätigkeit reduziert zu haben, zwei Drittel erlitten finanzielle Nachteile durch die gesetzlichen Vorgaben zur Pandemiebekämpfung. Ein Viertel der Betroffenen hatte Umsätze unter 1500 Euro monatlich. Kein Wunder, dass die Motivation zur einst viel gepriesenen »Ich-AG« rapide schwindet: Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung warnt in einer Studie, die Maßnahmen zur Bekämpfung des Virus haben zahlreiche freiberuflich Tätige zur Aufgabe gezwungen. Ein Viertel sei bereits ausgestiegen, elf Prozent suchten eine feste Stelle, 15 Prozent seien »inaktiv«, darunter vor allem Frauen. Hundertausende hätten sich bei den Jobcentern gemeldet und würden seither die Grundsicherung Hartz IV beziehen.
Auch Daten der Kreditauskunft Schufa und der Geschäftsklimaindex des Münchner ifo-Instituts belegen, dass Selbständigen und Kleinstunternehmen durch die Pandemie und die begleitenden politischen Maßnahmen teilweise die Geschäftsgrundlage entzogen wurde. Zu einer Belastung mit enormer Abschreckungswirkung entwickelten sich dabei die staatlichen Forderungen, die zugesagten Hilfen zurückzuzahlen. Zu Beginn war noch die Rede von »einem Zuschuss, der nicht zurückgezahlt werden muss« – so hatte es der heutige Kanzler und damalige Bundesfinanzminister Olaf Scholz wenige Wochen zuvor bei seinen »Bazooka«-Auftritten vollmundig versprochen. Wohlwollend betrachtet ging es faktisch um einen kurzfristigen Kredit. In umfassenden Onlineformularen sollten Betroffene ihren »Liquiditätsengpass« belegen. Nur wenn die Ausgaben in der Schlussaufstellung die Einnahmen überschritten, mussten die Zuschüsse nicht zurückgezahlt werden.
Aus der »unbürokratischen Hilfe« wurde so ein Damoklesschwert. Denn viele Soloselbständige, etwa freiberufliche Dozierende oder Schauspieler*innen, haben kaum Kosten, die sie anrechnen lassen könnten. Große Teile ihrer Arbeit bereiten sie im Homeoffice der eigenen Wohnung vor, die Investitionen in »Betriebsmittel«, wie sie steuertechnisch genannt werden, sind relativ gering. Der Logik der Ministerialbürokratie – und auch der Politik – ist diese Art des kleinstunternehmerischen Wirtschaftens offenbar völlig fremd. Aus der Unkenntnis entstand eine gigantische staatliche Fehlsteuerung, die an der Lebenswirklichkeit der Betroffenen vorbei ging. Die handlungsleitende Maxime lautete: (Zurück)Fordern statt Fördern. Dieser Praxis hat das Düsseldorfer Verwaltungsgericht nun einen ersten Riegel vorgeschoben und weitere Urteile mit ähnlichem Tenor dürften in den nächsten Wochen und Monaten folgen.
Die Konsequenzen für den Haushalt des bevölkerungsreichsten Bundeslandes sind dennoch überschaubar. Denn alle, die in Nordrhein-Westfalen keinen Widerspruch gegen ihre Rückzahlungsbescheide eingelegt haben und wegen der absehbar hohen Prozesskosten das Risiko einer Klage nicht eingehen wollten, dürften leer ausgehen – trotz der Erfolge in den Musterentscheiden. Ihre Anträge sind rechtlich längst abgehakt, im Nachhinein können sie keine Ansprüche mehr geltend machen. Allerdings stehen nach Schätzungen weitere 2000 bis 2500 Verfahren aus. Bei gleichem Ausgang kommen damit auf NRW Rückerstattungen beziehungsweise ausbleibende Einnahmen von rund 20 Millionen Euro zu.
Druck auf neue Ministerin
Auch wenn das eine peinliche juristische Niederlage für die Landesregierung ist, bleibt der Imageschaden überschaubar. Unbeeindruckt kann sie sich weiterhin damit brüsten, 4,5 Milliarden Euro Unterstützung für Kleinstbetriebe ausgeschüttet zu haben – ohne diese je real verbuchen zu müssen. Weniger als ein Prozent der Empfänger*innen habe geklagt, jubelte Christoph Dammermann, der inzwischen abberufene Staatssekretär von Ex-Wirtschaftsminister Andreas Pinkwart (FDP), schon lange vor dem Düsseldorfer Prozess.
Eine Gleichbehandlung aller 430 000 Hilfsanträge ist nach wie vor möglich, doch dazu bedarf es der politischen Bereitschaft. Die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di hat deshalb eine Online-Petition gestartet. Sie unterhält ein Service-Referat speziell für Freiberufler und informiert umfangreich über die Coronahilfen. »Es rächt sich, dass in der Vergangenheit versäumt wurde, sozialstaatliche Regeln zu etablieren, die die Lebens- und Erwerbslagen der Soloselbständigen berücksichtigen«, sagt Referatsleiterin Veronika Mirschel.
Gemeinsam mit Kooperationspartnern will ver.di jetzt Druck ausüben auf Pinkwarts Nachfolgerin Mona Neubaur (Grüne). Die Kernforderung des Aufrufs: »Die Landesregierung soll die Rückzahlungsforderung der Corona-Soforthilfen stoppen und bereits rücküberwiesene Summen erstatten.« Die Chancen der Aktion sind leider gering, denn die neue NRW-Wirtschaftsministerin ist vorrangig mit der Bewältigung der »Energiekrise« beschäftigt. Besondere Sensibilität für die Nöte von Künstler*innen, Gastwirt*innen oder anderen kleinen Selbständigen hat sie bisher nicht erkennen lassen.
Mit Trostpflastern abgespeist
Die Corona-Hilfsprogramme waren von Anfang ein chaotischer föderaler Flickenteppich. Auch Hamburg, Berlin, Brandenburg und Rheinland-Pfalz leiteten Prüfungen ein und forderten Geld zurück. Der Vertrauensverlust zwischen Regierenden und Regierten ist enorm. Der Umgang mit den Kleinstunternehmen in der Krise dokumentiert ein politisches Vorgehen, das fahrlässig Existenzen ruinierte. Die Pandemie legte zugleich strukturelle Probleme und die Illusionen offen, die sich »Existenzgründer« lange Zeit gemacht haben. Diese gehen in die Ära der Agenda 2010 zurück. Kritiker*innen warnten früh, dass viele Ein-Personen-Betriebe scheitern oder auf Tagelöhner-Niveau stagnieren würden. Trotzdem schien das Wirtschaften auf eigene Faust für manche die rettende Lösung und wurde als selbstbestimmter und moderner Lebensstil präsentiert. Mit Werbefloskeln wie »Selbst-GmbH« deutete die Wirtschaftsberatung »unbewegliche« Arbeitnehmer*innen zu »flexiblen« Auftragnehmer*innen um.
Wegen der Fixierung der Politik auf feste Beschäftigungsformen fehlen bis heute grundlegende Konzepte zur Unterstützung von Kleinstfirmen. Man könnte zum Beispiel eine spezielle Arbeitslosenversicherung für Selbständige entwickeln oder die Idee der Künstlersozialkasse (KSK) auf weitere Berufe übertragen. Die KSK ermöglicht Kunst- und Medienschaffenden den Zugang zur gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung bei günstigen Tarifen. Von einer Ausweitung profitieren würden freiberuflich Tätige etwa in der Kultur-, Bildungs- und Veranstaltungsbranche. Ein anderer Vorschlag: Der Staat könnte die Sozialbeiträge prekärer Selbständiger zeitweise ganz übernehmen. Für Kurzarbeitende, deren großzügige Unterstützung etwa der Bundesarbeitsminister Hubertus Heil ständig betonte, war das während der Pandemie selbstverständlich. Angestellte wurden relativ gut versorgt, Selbständige dagegen getäuscht oder mit Trostpflastern abgespeist. Die daraus entstandenen Interessenkonflikte müssen jetzt die Justizbehörden klären. Die Revision der Düsseldorfer Urteile in der nächsthöheren Instanz, beim Oberverwaltungsgericht Münster, wurde ausdrücklich zugelassen.
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