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Mit der Freiheit bezahlt
Die Justizsenatorin setzt sich für eine Reform der Ersatzfreiheitsstrafe ein, ändert für Berlin aber wenig
Daniel erinnert sich nicht an seine Verhaftung. Mit über drei Promille hatte ihn die Polizei an einem S-Bahnhof aufgegabelt, als er im Gefängnis zu sich kam, lag sein Alkoholpegel immer noch bei etwa 2,2. So erzählt es der 38-Jährige, der nicht mit vollem Namen in der Zeitung stehen will, bei einem Pressetermin am Mittwoch in der Justizvollzugsanstalt Plötzensee. Seit Anfang September sitzt Daniel im Haus A – mit über 414 anderen Gefangenen, die in Berlin eine sogenannte Ersatzfreiheitsstrafe abbüßen. Insgesamt muss Daniel 100 Tage im Gefängnis verbringen, und das, obwohl er nicht zu einer Haft-, sondern zu einer Geldstrafe verurteilt wurde. Denn die Ersatzfreiheitsstrafe greift genau dann, wenn Menschen nachweislich zahlungsunfähig sind und stattdessen mit ihrer Freiheit bezahlen müssen.
Die Justizsenatorin Lena Kreck (Linke) hat am Mittwoch dazu eingeladen, sich ein Bild von dem Gefängnis sowie der praktischen Bedeutung von Ersatzfreiheitsstrafen zu machen. Bis einschließlich Mai letzten Jahres war diese Praxis unterbrochen worden, um Corona-Ausbrüche in überfüllten Gefängnissen zu verhindern. Die lediglich aufgeschobenen Strafen führen nun zu einem Haftstau und wieder rasant steigenden Zahlen. Von 151 Fällen im Jahr 2021 hat sich die Anzahl bis jetzt fast verdreifacht, 90 Prozent der verfügbaren Plätze sind belegt.
Kreck will in den kommenden Tagen in Vorbereitung der Justizminister*innenkonferenz für eine Reform des Paragrafen 43 im Strafgesetzbuch werben. Vieles spricht gegen die derzeitige Umsetzung der Ersatzfreiheitsstrafe: Sie ist teuer, denn jeder Tag Haft kostet um die 225 Euro, sie ist ungerecht, denn sie richtet sich gegen armutsbetroffene Menschen, und sie ist für manche Menschen nur schwer zu umgehen.
Zwar gibt es mehrere Schritte, die eine Inhaftierung abwenden können. So lässt sich eine Ratenzahlung vereinbaren oder die Strafe durch »freie Arbeit« begleichen. Doch Menschen, die eine schwere Krankheit haben, die kein Deutsch sprechen oder die aufgrund von Wohnungslosigkeit nicht erreichbar sind, fallen oft durch dieses Raster. »Das Klientel bringt multiple Problemlagen mit sich«, betont auch der Leiter der Teilanstalt Dr. Kühl. Suchterkrankungen und andere psychische Belastungen gehörten zur Tagesordnung. Teilweise würden Menschen gar nicht mit der Inhaftierung rechnen: Wenn die Anzeige schon länger zurückliegt und eine Verurteilung über ein Strafbefehlsverfahren in Abwesenheit des Angeklagten stattfindet, könnte sich der Verurteilte in einer »Haftschocksituation« wiederfinden. »Sie werden aus ihren Bezügen gerissen«, so Kühl. Das könnte den Verlust eines Wohnheimplatzes bedeuten, auch eine eigene Wohnung würde nicht ewig vom Jobcenter gehalten werden.
Dass es die unterprivilegierten und marginalisierten Teile der Gesellschaft sind, die wegen kleiner Delikte im Gefängnis landen, zeigt auch eine Umfrage in der JVA Plötzensee: Etwa 40 Prozent der Inhaftierten sind wohnungs- oder obdachlos, über zwei Drittel haben keine Arbeit, überproportional viele sind nicht deutsch. Bei einem Großteil der Straftaten handelt es sich um sogenannte Leistungserschleichung, also Fahren ohne Ticket. Hier will Kreck ansetzen und die Erschleichung aus dem Strafgesetzbuch streichen. Eine Herabsetzung des Strafbestandes zur Ordnungswidrigkeit, wie der Bund es plant, sieht Kreck kritisch. »Das wäre am Ende auch eine Geldstrafe, die sich aber nicht abarbeiten ließe.«
Andere Ideen vom Bund begrüßt sie hingegen: So soll die Anzahl der Tage, die als Strafersatz abzusitzen sind, halbiert werden. Wenn jemand zu 40 Tagessätzen verurteilt wird, würde das zu einer Haft von 20 Tagen umgewandelt werden. Kreck schlägt außerdem vor, mit einer Prüfungsinstanz festzustellen, ob Menschen tatsächlich schuldfähig sind und ob ein Fall von »unbilliger Härte« vorliegt.
Mitali Nagrecha gehen diese Veränderungen nicht weit genug. Als Sprecherin des Justice Collective weist sie seit Jahren auf die ungerechte Praxis der Ersatzfreiheitsstrafe hin. »Die bisherigen Reformvorschläge sind wirklich enttäuschend«, so Nagrecha. »Schon eine Nacht im Gefängnis kann dir nachhaltig schaden.« Solange der Paragraf nicht abgeschafft sei, müsse in ihren Augen die Senatorin auf Landesebene alles daran setzen, so wenige Ersatzfreiheitsstrafen wie möglich zu verhängen. »Sie ist die Chefin der Staatsanwaltschaften, deshalb sollte sie klare Anweisungen geben, welche Delikte nicht strafverfolgt werden sollten.« So sorgt beispielsweise eine Allgemeinverfügung bereits dafür, dass die Staatsanwaltschaft ihre Ermittlungen wegen eines Drogendeliktes einstellt, wenn maximal zehn Gramm Cannabis gefunden wurden.
Doch auf derartige Lösungsansätze will sich Kreck nicht einlassen, »das Zauberwort lautet hier: Gewaltenteilung«, so die Senatorin. Ein Gesetz ließe sich nicht dauerhaft von der Exekutive umgehen, da müsse schon die Judikative in Verantwortung genommen werden. Neben einer Gesetzesreform hält sie auch einen sozialen Ansatz für dringlich. Die Ersatzfreiheitsstrafe krisenbedingt erneut auszusetzen, lehnt sie jedoch ab – das würde die Strafen lediglich wieder aufschieben.
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