»Trauer passiert nicht nur im Privaten«

Maurice Stierl über das europäische Grenzregime und die emanzipatorische Kraft hinter Gedenken

  • Sophie Tiedemann und Anne-Victoria Hofacker
  • Lesedauer: 7 Min.
Maurice Stierl engagiert sich bei Alarm Phone, einer Rettungshotline für Geflüchtete in Seenot.
Maurice Stierl engagiert sich bei Alarm Phone, einer Rettungshotline für Geflüchtete in Seenot.

Für jedes einzelne Grab, das im Mittelmeer entsteht, gibt es eine trauernde Familie im Hintergrund. Welche Möglichkeiten haben Angehörige, mehr über den Verbleib ihrer Vermissten zu erfahren?

Interview

Maurice Stierl engagiert sich bei Alarm Phone, einer Rettungshotline für Geflüchtete in Seenot. Derzeit leitet er zudem die Forschungsgruppe »The Production of Knowledge on Migration« am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien an der Universität Osnabrück. Seine Forschung setzt sich mit der Erkämpfung von Bewegungsfreiheit, der Gewalt des europäischen Grenzregimes und auch mit Traueraktivismus auseinander.

Angehörige haben sehr limitierte Möglichkeiten auf der Suche nach ihren Familienmitgliedern. Körper werden selten irgendwo angespült: Wir gehen davon aus, dass etwa neun von zehn Menschen, die im Meer verschwinden, nicht gefunden werden. Es ist also sowieso schon schwierig, diese Menschen zu finden. Gleichzeitig erschweren staatliche Behörden die Suche. Deshalb melden sich viele der Hinterbliebenen immer wieder bei kleinen Aktivist*innen. Die Suche nach Verschwundenen ist aber eine Mammutaufgabe und oftmals überhaupt nicht zu bewältigen. Aktivist*innen müssen also mit der Bürde umgehen, auf der einen Seite die Hoffnung für die Angehörigen aufrechtzuerhalten und auf der anderen Seite zu wissen, dass es oftmals überhaupt nicht möglich ist, Antworten zu finden. Auch Alarm Phone bekommt sehr viele Anfragen, die wir nicht beantworten können. Wir sind in erster Linie eine Seenotrettungshotline und keine Suchhotline. In wenigen Fällen haben wir es aber tatsächlich geschafft, die Identitäten von Vermissten herauszufinden.

Wie läuft die Rekonstruktion eines Bootsunglücks denn im konkreten Fall ab?

Ich kann ein Beispiel erzählen, das sich im Februar 2020 zugetragen hat. Wir wurden von einer Gruppe von 91 Personen angerufen. Es war 4 Uhr morgens und die Menschen befanden sich auf einem schwarzen Schlauchboot vor Garabuli in Libyen. Sie waren in Panik, aber sie schafften es, ihre GPS-Position weiterzugeben. Die Koordinaten haben wir dann an die italienischen und maltesischen Behörden weitergegeben. Auch die sogenannte libysche Küstenwache haben wir alarmiert. Das Boot war noch relativ nah an der libyschen Küste, deshalb mussten wir versuchen, alle Möglichkeiten auszuschöpfen. Es war circa 5.30 Uhr morgens, als die Menschen uns dann ein letztes Mal anriefen. In den darauffolgenden Tagen wurde deutlich, dass sie nirgendwo aufzufinden waren. Nachdem wir alle möglichen Informanten gefragt hatten, deutete nichts darauf hin, dass diese Menschen irgendwo an Land gegangen waren. Gleichzeitig bekamen wir immer mehr Anfragen von Angehörigen, die uns erzählten, dass ihre Verwandten zu besagtem Zeitpunkt auf dem Meer waren. Wir sprachen auch mit jemandem, der viele seiner Freunde vermisste. So konnten wir dann einige der Identitäten rekonstruieren. Wir haben auch versucht, Druck auf die Behörden aufzubauen. Zehn Monate später hat Frontex uns tatsächlich ein Bild zukommen lassen, das ein halb untergegangenes Schlauchboot zeigte. Menschliche Überreste waren nicht zu sehen. Trotzdem haben wir befürchtet, dass dies das Boot der 91 Menschen war. Es ist oft so, dass Körper zwar ein paar Stunden auf dem Wasser treiben, aber dann sinken. Sobald sie gesunken sind, kann man sie nicht mehr aus der Luft sichten. Wir haben das als weiteren Beweis dafür gesehen, dass all diese 91 Menschen tatsächlich ertrunken sind. Und im Kontakt mit den Hinterbliebenen konnten wir über 60 Identitäten feststellen. Gemeinsam mit den Angehörigen haben wir dann Proteste organisiert. Nach wie vor konnten wir aber von über 30 Menschen die Identitäten nicht zuordnen. Das zeigt, dass es selbst in so einem Fall – in dem wir Informationen von den Behörden, wenn auch nur Bruchstücke, bekommen haben und in den wir von Anfang an direkt involviert waren – extrem schwierig ist, ein Bootsunglück zu rekonstruieren.

Welche Möglichkeiten gibt es für Angehörige, den Verstorbenen in seiner Heimat zu beerdigen?

Häufig werden nur einzelne Gliedmaßen am Strand angespült. Möglichkeiten, vor Ort eine DNA-Identifizierung durchzuführen, sind meistens nicht gegeben. Wir haben einen Freund in Tunesien, der oft Überreste von Menschen findet, sie begräbt und versucht, ihre Identitäten zu dokumentieren. Das ist aber sehr komplex. Und auch, wenn ein Leichnam geborgen wird, ist es schwierig, ihn in seinem Heimatland zu bestatten. Eine Rückführung ist sehr teuer, sie kostet mehrere Tausend Euro. Außerdem müssen die lokalen Behörden zustimmen – auch das ist nicht so einfach. Vor allem durch die finanzielle Hürde kommt es oft dazu, dass die Leichname dann an den Orten, an denen sie gefunden werden, beerdigt werden. Leider meistens ohne die jeweiligen kulturspezifischen Rituale. Häufig werden auch Überreste, zum Beispiel ein Zahn, an die Hinterbliebenen geschickt, damit sie irgendetwas haben, mit dem sie eine Bestattung durchführen können.

Der 6. Februar wurde zum »International Day of Commemor Action« ernannt. Worum geht es an diesem Tag?

Es gibt so viele verschiedene Daten, die für die Angehörigen signifikant sind als Gedenktag – meistens der Tag, an dem ihre Kinder verschollen sind. Gleichzeitig haben wir versucht, uns jedes Jahr auf ein Datum zu einigen, das zu einem internationalen Tag der Commemor Action werden kann. An diesem Tag geht es darum, die Wut auf das Grenzregime und die Gewalt an den Grenzen mit Trauer zu verbinden. Ich erinnere mich an Begegnungen im Jahr 2012 mit den Eltern von meist jungen Männern, die auf der Mittelmeer-Route von Tunesien nach Italien verschwunden sind. In diesem Jahr, kurz nach der Arabischen Revolution, kam es zu einer Rekordzahl an Toten. Daraufhin haben sich viele der Mütter zusammengetan, um gegen die Nicht-Aufklärung seitens der europäischen Behörden vorzugehen. Wir sind gemeinsam nach Italien gereist, um Aufklärung einzufordern, Zugang zu Informationen und Daten zu Schiffsunglücken zu erlangen. Seit mehreren Jahren nennen wir diese Art der Proteste Commemor Actions, weil dieses Wort die beiden Dimensionen so gut verbindet: die Aktion aus der Wut und das Gedenken an die Toten und Verschollenen. Mit diesen Handlungen wird auch eine Art Versprechen abgegeben. Auf der einen Seite, dass der Kampf gegen die Gewalt, die zu den Toten geführt hat, weiter geht. Aber auch, dass die Menschen, die verschwunden sind, nicht vergessen werden.

Trauer und Aktivismus: Wie passt das für dich zusammen?

Proteste, die sich aus Trauer speisen, gibt es schon sehr lange. Da gibt es auch viele Beispiele aus anderen Kontexten als aus dem der Migration. Mütter aus Argentinien beispielsweise, die sich mobilisiert haben, um gegen das Regime zu protestieren, das maßgeblich für das Verschwinden ihrer Kinder verantwortlich war. Aus dieser Verzweiflung, die ja einzelne Familien betrifft, haben sie etwas Kollektives aufgebaut. Für mich ist dieser Traueraktivismus etwas sehr Kreatives und Besonderes. Judith Butler hat schon davon gesprochen, dass man Trauer nicht als etwas Unpolitisches betrachten sollte, sondern als Ressource für eine andere Art von Politik. Dass Trauer nicht irgendetwas ist, das nur im Privaten passiert und dadurch entpolitisiert ist, sondern eben auch, dass gerade durch Traueraktivismus eine neue politische Gemeinschaft kreiert werden kann. Für mich ist so entscheidend bei den CommemorActions, dass sie eine andere Dimension haben als zum Beispiel der Alarm Phone-Aktivismus im Mittelmeer, der tagtäglich in einer Notfalldynamik stattfinden muss.

In Initiativen wie Alarm Phone ist der Ausnahmezustand Alltag. Wie hältst du das aus – und was lässt dich weitermachen?

Es stimmt, dass für uns bei Alarm Phone der Ausnahmezustand Alltag geworden ist. Gleichzeitig versuchen wir, uns immer wieder zu vergegenwärtigen, dass das keine Normalität sein darf. Wir arbeiten daran, dass es uns als Netzwerk längerfristig nicht mehr geben muss. Aktivist*innen sollten nicht Tag und Nacht ein Notfalltelefon betreiben müssen, um Rettungen im Mittelmeer einzuleiten oder Menschenrechtsverletzungen aufzudecken oder gar zu verhindern. Nur sieht es leider nicht so aus, als könnten wir unsere Arbeit innerhalb der nächsten Jahre beenden. Wir werden also weiterhin am Telefon sein, rund um die Uhr. Das, was mich weitermachen lässt, ist die internationale Solidarität im Mittelmeer – durch die so viele Menschen gerettet wurden, die sonst ertrunken wären.

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