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Professorin ohne Einkommen
Die 300. Ausgabe der »Jüdischen Miniaturen« stellt die Tuberkulose-Forscherin Lydia Rabinowitsch-Kempner vor
Lockdown und Maskenpflicht – ja, nein, unter welchen Umständen? Mit dem Robert Koch-Institut (RKI), das heute die biomedizinische Leitforschungseinrichtung der Bundesregierung ist, verbindet man aktuell vor allem die Erforschung des Coronavirus und eine laute Stimme in öffentlichen Gesundheitsdebatten.
Anders und doch ähnlich Ende des 19. Jahrhunderts: Damals war der Tuberkelbazillus der Hauptfeind, der Mikrobiologe Robert Koch hatte ihn 1882 erstmalig als Erreger der Tuberkulose beschrieben. Koch leitete das 1891 gegründete Berliner »Königlich Preußische Institut für Infektionskrankheiten«, das später nach ihm in Robert Koch-Institut umgetauft wurde. Eine Kontroverse in der Tuberkuloseforschung drehte sich darum, ob und inwiefern der Erreger der Rindertuberkulose dem Menschen gefährlich werden konnte. Koch vertrat die These, dass das Rinder-Tuberkulose-Bakterium für den Menschen nicht von Bedeutung sei; Lydia Rabinowitsch-Kempner hingegen, eine seiner Angestellten, war anderer Meinung und drängte darauf, die mögliche Übertragung der Krankheit durch den Konsum von Milchprodukten zu erforschen. Sie hatte recht: Heute weiß man, dass die Tuberkulose von Tier zu Mensch übertragen werden kann – auch deshalb trinken wir heute nur pasteurisierte Milch.
Rabinowitsch-Kempner hätte im letzten Jahr ihren 150. Geburtstag gefeiert, doch eine große Ehrung war aufgrund der Pandemieverordnungen nicht möglich. Vergangenen Mittwoch holte nun das RKI diese nach – Anlass ist auch die Publikation der 300. »Jüdischen Miniatur« im Verlag Hentrich & Hentrich, die sich der Mikrobiologin widmet. Verfasst wurde sie vom Medizinhistoriker Benjamin Kuntz und der Ärztin und Gesundheitswissenschaftlerin Katharina Graffmann-Weschke.
Lydia Rabinowitsch-Kempner war in dreierlei Hinsicht eine Vorreiterin ihres Geschlechts: Sie war die erste Professorin Berlins (und die zweite Deutschlands), sie war die erste und lange die einzige Forscherin am Robert Koch-Institut und sie war weltweit die erste Frau, die mit der »Zeitschrift für Tuberkulose« eine akademische Fachzeitschrift herausgab.
Als neuntes Kind 1871 in eine jüdische Brauerei-Familie im russischen Kowno (heute Kaunas in Litauen) geboren, war sie schon früh mit dem Antisemitismus im Zarenreich konfrontiert. So erlebte sie als Kind Pogrome an der jüdischen Bevölkerung als Folge der Ermordung von Zar Alexander II. Rabinowitsch-Kempner durfte als Jüdin nicht in ihrem Heimatland studieren; stattdessen ging sie in die Schweiz, wo sie sich zunächst in Bern und Zürich an den philosophischen Fakultäten einschrieb. Nach wenigen Semestern verlegte sie ihren Schwerpunkt in Zürich auf Zoologie und Botanik. 1894 wurde sie mit einer Arbeit zu Bauchpilzen promoviert und fing noch im selben Jahr an, für das RKI zu arbeiten. Rabinowitsch-Kempner war zudem gesellschaftspolitisch aktiv – als engagierte Feministin war sie Mitgründerin mehrerer Frauenrechtsorganisationen und setzte sich etwa für zinsfreie Darlehen an studierende Frauen ein. Obgleich von Robert Koch hochgeschätzt, hatte sie als Forscherin mit vielen Widerständen zu kämpfen – nicht nur, weil sie eine Frau auf Männergebiet, sondern auch, weil sie eine Jüdin war, noch dazu eine russische. Warum genau sie 1904 aus ihrer Forschungstätigkeit beim RKI austreten musste, ist bis heute nicht geklärt, es lagen wohl Meinungsverschiedenheiten zugrunde. Sicher ist, dass sich, nachdem sie ihr drittes Kind geboren hatte und in ihren Beruf zurückkehren wollte, ihre männliche Kollegen gleichsam gegen sie verschworen und eine Art »Palastrevolution« in Abwesenheit Robert Kochs durchführten. Sie sperrten sich wohl auch aus Karrieregründen dagegen, weiter mit Rabinowitsch-Kempner zusammenzuarbeiten – heute würde man das wohl »Canceling« nennen.
Rabinowitsch-Kempner musste gehen, fand jedoch schon kurz darauf eine Forschungsstelle in der Tuberkuloseabteilung der Berliner Charité. 1912 wurde ihr der Professorentitel verliehen. Was heute befremdet: Weder für ihre Arbeit am RKI noch an der Charité erhielt sie je eine Bezahlung. Den Familienunterhalt muss Benjamin Kuntz zufolge allein ihr Mann Walter Kempner, ebenfalls Tuberkuloseforscher, eingebracht haben. Und trotz ihres Professorentitels – einer sogenannten Titularprofessur – fand Rabinowitsch-Kempner keine Anstellung an einer Universität und konnte sich nicht wie gewünscht habilitieren. Als ihr Mann 1920 (ironischerweise an Tuberkulose) starb, wechselte sie ans Bakteriologische Institut des Städtischen Krankenhauses Moabit. Dort wurde sie 1934 aufgrund der nationalsozialistischen Rassegesetze zwangspensioniert. Auch die »Zeitschrift für Tuberkulose« durfte sie nicht weiter herausgeben. 1935 starb Lydia Rabinowitsch-Kempner nach schwerer Krankheit in Berlin, nachdem ihre beiden Söhne – ihre Tochter Nadja war 1932 ebenfalls an Tuberkulose verstorben – wegen der um sich greifenden Judenfeindschaft das Land verlassen hatten.
Es ist wohl zu großen Teilen Katharina Graffmann-Weschke zu verdanken, dass Lydia-Rabinowitsch-Kempner in den letzten Jahren verstärkt Aufmerksamkeit zuteil wurde (so wurde 2016 eine Straße in Berlin nach ihr benannt). Graffmann-Weschke veröffentlichte 1999 ihre Doktorarbeit in Medizin über Rabinowitsch-Kempner, diese wurde im letzten Jahr zum runden Geburtstag der Mikrobiologin von Hentrich & Hentrich neu herausgegeben. In diesem Jahr folgte nun die »Jüdische Miniatur«, die Rabinowitsch-Kempners Lebensweg noch einmal in kurzer Form zusammenfasst.
Die »Jüdischen Miniaturen« werden im Verlag von dem Historiker Hermann Simon herausgegeben. »Die Reihe Miniaturen will auf das jahrhundertelange deutsch-jüdische Zusammenwirken hinweisen«, so Nora Pester, Eigentümerin und Verlegerin von Hentrich & Hentrich auf der Veranstaltung im RKI. »Solange wir uns den Luxus der Miniaturen leisten können, machen wir weiter.« Ein Vorhaben, das besonders angesichts des global wieder erstarkenden Antisemitismus wichtig erscheint.
Katharina Graffmann-Weschke/Benjamin Kuntz: »Lydia Rabinowitsch-Kempner. Bakteriologin, Tuberkuloseforscherin, Berlins erste Professorin«, aus der Reihe Jüdische Miniaturen, Hentrich & Hentrich 2022, 84 Seiten, broschiert, 8,90 €. Katharina Graffmann-Weschke: »So wollen denn auch wir in diesem Sinne handeln. Die Bakteriologin Lydia Rabinowitsch-Kempner (1871–1935)«, Hentrich & Hentrich 2021, 258 Seiten, Klappenbroschur, 27 €.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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