• Kultur
  • Literaturbeilage zur Frankfurter Buchmesse

Ein Schlüsseljahr

Wie der Ire Mark Jones eine deutsche Republik am Abgrund kommentiert

  • Reiner Tosstorff
  • Lesedauer: 5 Min.

Im Jahre 2017, kurz vor dem 100. Jahrestag der Novemberrevolution, machte das Buch des Dubliner Historikers Mark Jones über die Anfänge der Weimarer Republik Furore. Es setzte neue Akzente in der vorherrschenden Darstellung der Entstehung der »ersten deutschen Demokratie«. Jones zeigte, wie die Grundlegung eines neuen Verfassungsstaates in der »Verfassungswirklichkeit« unmittelbar verknüpft war mit dem Einsatz massiver Gewalt gegen die Arbeiterschaft durch Freikorps und Reichswehr auf Befehl von Friedrich Ebert und Gustav Noske. Diese schonungslose Bilanzierung schien an traditionelle linke Kritik am SPD-Verhalten in der deutschen Revolution 1918/19 anzuknüpfen. Doch schon damals fiel auf, dass der soziale Hintergrund der niedergeschlagenen Arbeiteraufstände für den Autor kaum eine Rolle spielte.

Das macht sich nun noch stärker in seinem neuen Buch über das Krisenjahr 1923 bemerkbar, als die französische Besetzung des Ruhrgebiets zur Sicherung der deutschen Reparationsverpflichtungen aus dem Versailler Friedensvertrag eine tiefe Erschütterung auslöste. Sie führte zu einer gigantischen Inflation, da die deutsche Regierung für das Besatzungsgebiet einen »passiven Widerstand«, also faktisch einen Streik, proklamierte und diesen mithilfe der Notenpresse finanzierte.

Sicher ist richtig, dass dieses Jahr, wie Jones im Titel schreibt, schnell zu einem Trauma wurde und die Ereignisse der Jahre zuvor in den Schatten stellte. Das Bürgertum, das mit der Zeichnung von Anleihen zu einem wesentlichen Teil die Kriegsführung des Kaiserreichs mitfinanziert hatte, in der Hoffnung auf reichliche Entlohnung nach einem Sieg, sah sich nun durch die Hyperinflation und die dadurch hervorgerufene Entwertung aller seiner Schuldtitel enteignet. Die gegen Jahresende zu verzeichnende Stabilisierung und das folgende Jahrfünft, die »Goldenen Zwanziger«, konnten das nicht wieder wettmachen. Damit wurde die Grundlage gelegt, die in der erneuten Krise ab 1929 – diesmal eine Krise der Massenarbeitslosigkeit und des breiten Sozialabbaus – den Aufstieg der Nazis möglich machte.

So weit ist diese Geschichte nicht unbekannt und bereits des Öfteren geschildert worden. Was Jones sich nun vornimmt, ist zum einen eine sehr detaillierte Schilderung der Ereignisse Monat für Monat. Sie erfolgt in zwölf aufeinanderfolgenden Miniaturen, denn in jedem Kapitel steht nicht nur das Ereignis, das den entsprechenden Monat bestimmte, im Vordergrund. Er verknüpft dieses zum anderen mit Nachwirkungen in Folgejahren, die auch noch viel später die Erinnerung an das Jahr prägen sollten.

Beginnend mit der Ermordung Außenminister von Walther Rathenau durch Rechtsradikale im Sommer 1922 als Menetekel für die folgenden Ereignisse, verwebt er in seiner Schilderung des Jahres verschiedene Stränge. So die außenpolitisch bestimmte Seite: Frankreichs Vorgehen, dessen diplomatische Verwicklungen mit Großbritannien und das internationale Taktieren Deutschlands. Das Schwergewicht liegt natürlich auf dem Vorgehen der Besatzungstruppen, das auf breite Zurückweisung stieß. Die Folge waren gewaltsame Zusammenstöße, oftmals mit Toten. Zahlreiche Übergriffe von Soldaten waren auch mit sexueller Gewalt verbunden, was sich besonders im »Gedächtnis« der Bevölkerung niederschlug und oftmals nicht geahndet wurde.

Die Antwort war eine bis dahin ungeahnte nationalistische Mobilisierung mit einer Reihe von Attentaten, was von der Reichsregierung, wie Jones zeigt, hingenommen wurde, wenn nicht abgesprochen war. Ausführlich zeichnet er dabei nach, wie Hitler diese Situation in München ausnutzte, um sich nun deutschlandweit als Führer der radikalen Rechten zu etablieren. Dies erfolgte mit offener Hinnahme durch die bayerische Regierung bis zum Putschversuch im November.

Motor dieser Entwicklung war die galoppierende Inflation, die bald das ausgegebene Geld noch am selben Tag entwertete. Erst eine neue Regierung unter Gustav Stresemann schaffte durch den Abbruch des passiven Widerstandes schließlich eine Stabilisierung. Das galt auch der Vorbeugung einer Radikalisierung nach links hin, was in Sachsen und Thüringen zur Absetzung der dort gebildeten »Arbeiterregierungen« aus KPD und SPD mit Hilfe der Reichswehr führte.

Eine vergleichbare Aktion gegen die Umtriebe in Bayern gab es allerdings nicht. Die SPD-Führung in Berlin, die bis dahin die »nationale Mobilisierung« mitgetragen hatte, musste nun feststellen, dass sie nach der politischen Stabilisierung nicht mehr nötig war, und ging in die parlamentarische Opposition. Eine der Maßnahmen zur »Stabilisierung« war die Abschaffung des mit der Revolution errungenen Acht-Stunden-Tages, gegen die SPD und Gewerkschaftsführung nur noch vergebens protestieren konnten.

Jones hat diese Entwicklung detailliert entlang seiner Sichtweise der Gefährdung der Republik durch die Feinde von rechts und links, gegen die Ebert und Stresemann geschickt ansteuerten, erzählt. Dabei hat er auch auf viele Archive zurückgegriffen. Seine Arbeit liest sich anschaulich, weil er immer wieder exemplarische Einzelschicksale hervorhebt. Doch das, was er als »Gefahr von links« mehr erwähnt als ausführt, bleibt ganz blass. Tatsächlich kommen die sozialen Bewegungen, die verschiedenen Streikwellen wie auch das Verhalten der KPD kaum vor, obwohl es auch für sie ein Schlüsseljahr war in der Erwartung eines endgültigen Anlaufs zum »Deutschen Oktober«. Doch findet sie eigentlich nur größere Erwähnung im Zusammenhang mit der Absetzung der erwähnten Arbeiterregierungen, ohne dass Jones wirklich auf die komplexen Hintergründe eingeht.

Hier macht sich bemerkbar, dass er die umfangreichen Arbeiten und Dokumentensammlungen dazu seit der Öffnung der Archive in Berlin und Moskau gar nicht erst zur Kenntnis genommen hat. So bleibt das Urteil zwiespältig. Er vermag zwar viel von den Krisenmomenten jenes Jahres zu vermitteln. Doch die politischen Zusammenhänge erschließen sich nur in traditionellen Schemata. 

Zweifellos werden uns die bevorstehenden 100. Jahrestage der Ereignisse 1923 angesichts aktueller sozialer Verwerfungen, die manche Parallelen aufscheinen lassen, noch stark beschäftigen.

Mark Jones: 1923. Ein deutsches Trauma. Propyläen, 384 S., geb., 26 €.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -