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- Frankreich in der Krise
Rettungsring für das Budgetgesetz
Frankreichs Regierung verbindet Abstimmung über Haushalt 2023 mit der Vertrauensfrage
Mit einer nur drei Minuten langen Rede hat Frankreichs Premierministerin Elisabeth Borne am Mittwochabend die seit sieben Tagen andauernde Debatte über den ersten Teil des Budgetgesetzes für 2023 beendet. Da die Regierung in der Nationalversammlung seit der Wahl vom vergangenen Juni nicht mehr über die absolute Mehrheit verfügt und da alle rechten wie linken Oppositionsparteien gegen den Haushalt stimmen wollen, griff die Regierungschefin zum einzig gebliebenen Mittel, um das Budgetgesetz zu retten – zum Paragraphen 49.3 der Verfassung.
Er erlaubt der Regierung, einen Gesetzentwurf mit der Vertrauensfrage zu verbinden. Der Entwurf gilt als ohne Votum verabschiedet, wenn es keinen Misstrauensantrag gab, der mit Mehrheit angenommen wurde, was den Sturz der Regierung zur Folge hätte. Erwartungsgemäß setzte Borne für den ersten Teil des Budgetgesetzes diesen Artikel ein, der damit schon als verabschiedet gilt.
Ebenso erwartungsgemäß haben das rechtsextreme Rassemblement National und die linke Bewegung La France insoumise umgehend Misstrauensanträge eingebracht. Über die muss nun innerhalb einer Woche abgestimmt werden, doch dass sie abgelehnt werden, steht heute schon fest. Beide Bewegungen haben bereits erklärt, dass keine für den Antrag der anderen votieren wird. Die rechtsbürgerliche Oppositionspartei der Republikaner will ihrerseits für keinen der beiden Misstrauensanträge stimmen, um nicht »das Chaos noch chaotischer zu machen«, wie ihr Fraktionsvorsitzender erklärte. Dahinter dürfte aber auch die Angst stehen, bei Neuwahlen, die auf den Sturz der Regierung folgen würden, noch schlechter abzuschneiden als bei den Wahlen 2017 und 2022 – und so bis zur Bedeutungslosigkeit zu schrumpfen.
In dem Moment, als Elisabeth Borne auf der Rednertribüne den Artikel 49.3 erwähnte, erhoben sich die Abgeordneten des linken Parteienbündnisses Nupes und verließen geschlossen den Sitzungssaal, um in der Vorhalle den Journalisten gegenüber dieses »brutale und undemokratische Manöver« der Regierung zu geißeln.
Unterdessen hat die Regierungschefin zum Zeichen der Kompromissbereitschaft in ihre Endfassung des ersten Teils des Budgetgesetzes einige sekundäre Abänderungen aufgenommen. Die gehörten zu den rund 100 der insgesamt 4000 Änderungsanträge der Opposition, für die es während der Debatte bei Vorabstimmungen eine Stimmenmehrheit gab, weil sich einige Abgeordnete des Regierungslagers angeschlossen hatten.
Das betrifft beispielsweise den Antrag der rechtsbürgerlichen Republikaner, den Wert der Restaurantschecks, die Unternehmen für jeden Arbeitstag als Ersatz für die nicht vorhandene Betriebskantine an ihre Mitarbeiter verteilen können und der für beide Seiten steuerfrei ist, auf 13 Euro anzuheben. Akzeptiert wurde auch der Antrag der Sozialisten, für Atemschutzmasken den ermäßigten Steuersatz von 5,5 Prozent in Anwendung zu bringen, oder der Antrag der Grünen, verbrauchtes Frittieröl als Dieselersatz für Bau- und Landmaschinen zuzulassen. Das zeugt davon, dass die Regierung nur relativ belanglose Anträge passieren ließ.
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Mit den Regeln und Gepflogenheiten der Volksvertretung bestens vertraute Parlamentsjournalisten haben bereits hochgerechnet, dass die Regierung in den nächsten Tagen und Wochen bis zu 14-mal zu diesem verfassungsrechtlichen Rettungsring wird greifen müssen. Der Artikel 49.3 muss sowohl in der Nationalversammlung als auch im Senat für jeden Teil des Gesetzes über den Staatshaushalt wie auch des Gesetzes zum Budget der Sozialversicherung ins Feld geführt werden, über das seit Donnerstag debattiert wird. All das wird sich noch einmal wiederholen, denn auf die erste Lesung in beiden Kammern folgt noch eine zweite.
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Der Ausnahmeartikel 49.3, zu dem es in keiner Verfassung der anderen EU-Länder ein Pendant gibt, ist in der Geschichte der seit 1958 bestehenden Fünften Republik bereits 89-mal eingesetzt worden – und immer mit Erfolg: Kein einziges Mal ist dadurch eine Regierung gestürzt worden. Beobachter werten den Rückgriff auf Artikel 49.3 als deutliches Zeichen der Schwäche. Sie gehen davon aus, dass dieses politische Manöver denen in die Hände spielt, die Macron »absolutistisches Regieren« und Mangel an Konsensfähigkeit vorwerfen. Unzweifelhaft ist, dass es die Politikverdrossenheit in breiten Kreisen der Bevölkerung weiter verstärken wird.
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