• Kultur
  • Literaturbeilage zur Frankfurter Buchmesse

Lachen oder Wegrennen

Caterina Westphal schildert den alltäglichen Wahnsinn auf einer Intensivstation

  • Silvia Ottow
  • Lesedauer: 4 Min.

Lenja ist Krankenschwester auf einer kardiochirurgischen Intensivstation irgendwo in diesem Land. Es könnte überall sein, wo Menschen operiert und anschließend gepflegt werden. An diesem Arbeitsmorgen bekommt sie es mit dem Koloss von Rhodos zu tun. Heimlich nennen sie den stark übergewichtigen Patienten hier so, der 210 Kilo auf die Waage bringt. Ohne die Hilfe eines kräftigen Kollegen könnte sie ihn nicht einmal auf die Seite legen. Er bekommt nach dem Waschen Tücher zwischen die Hautfalten gelegt, damit diese sich nicht entzünden.

Herr Maiwald, der sich nach dem Eingriff der Ärzte vorübergehend in verwirrtem Zustand befindet (der Fachbegriff lautet Durchgangssyndrom) beschimpft die Pflegekräfte: »Schweinebande!« Er meint, man wolle ihn umbringen, fordert, dass die Polizei kommt, und reißt sich bei seiner Toberei alle Medikamentenzugänge ab. Dabei ist die Polizei längst vor Ort, denn auch ein Drogendealer befindet sich auf dieser Intensivstation, der mehrere Päckchen Kokain verschluckt hat, reichlich Abführmittel bekam, und es nun ablehnt, sein großes Geschäft unter Aufsicht der Polizisten auf der Bettpfanne zu verrichten. »Alter, wenn ich scheiße, ist niemand dabei«, brüllt er in einem letzten aussichtslosen Versuch. Lachen oder Wegrennen oder beides, das ist hier die Frage.

Was sich liest wie ein lustiges Drehbuch zu einer neuen Arztserie, ist leider sehr viel näher an der Realität in deutschen Krankenhäusern, als es einem lieb sein kann. Die Geschichten, die die Protagonistin Lenja erlebt, beruhen auf den Schilderungen von Caterina Westpfahls Schwester, selbst in diesem Beruf tätig und mit der Autorin in der Absicht vereint, das Schaurige dieses für uns alle so wichtigen Berufes offenzulegen, ohne das Lustige auszulassen. Oder umgekehrt, je nach Tagesverfassung der Patienten und des ärztlichen und pflegerischen Personals.

Was haben wir in den letzten Jahren nicht alles über Intensivstationen gelesen, gehört und gesehen! Wir erfuhren, wie viele Intensivbetten es gibt, wie viele coronakranke Menschen dort beatmet werden mussten, wie das Personal sich fühlte, welche Prognosen die Medizinerinnen abgaben, was das alles kostet und wie viele Pflegekräfte diesem schweren Beruf bereits den Rücken gekehrt haben. Allen Beteiligten war klar, dass es so nicht weitergehen konnte.

Nach der Lektüre von Westpfahls Buch begreift man schlagartig zwei Dinge: Erstens geht doch alles so weiter und zweitens hat die permanente Berieselung mit Intensivstationsberichten in den Medien nicht wirklich unser Wissen erweitert und nicht wirklich die ungeschminkte Wahrheit vermittelt. In diesem Buch wird sie erzählt, ohne Schonung empfindlicher Gemüter und ohne dem Mythos des allwissenden Doktors neue Nahrung zu geben.

Auch in diesem lebenswichtigen Bereich gibt es Inkompetenz, Sarkasmus statt Feinfühligkeit, mangelnde Transparenz, Chaos in den Arbeitsabläufen und Geschäftemacherei. So zum Beispiel, wenn alten Menschen unnütze Untersuchungen und Operationen aufgeschwatzt werden. Pfleger Alexei bringt es auf den Punkt: »Ach, da brauchten die Chirurgen wohl Patientennachschub und haben mal wieder eine Runde umsonst Ultraschalluntersuchungen im Pflegeheim verteilt?« Im Ergebnis wurde ein alter Mann operiert. Einen Tag darauf starb er, aber mit neuer Herzklappe.

Lenja erlebt in mancher Woche mehrere Todesfälle. Sie sieht ein Kind sterben und muss erleben, wie selbstherrliche Anordnungen von Ärzten für Qualen bei den Patienten sorgen, wie disfunktionale Geräte den Tod begünstigen oder überhebliche Mediziner den Pflegekräften eine buchstäbliche Schweinerei am Patientenbett hinterlassen. Manchmal vergisst sie zu essen, manchmal vergeht ihr der Appetit. Manchmal helfen nur drei Tafeln Schokolade und eine Flasche Wein nach der Schicht. Aber sie bleibt dabei.

Caterina Westphal hat dank der Überlieferungen aus erster Hand eine sehr dichte Beschreibung der Zustände auf einer Intensivstation abgeliefert, die der oft vertuschten Wahrheit nahekommen dürfte. Sie hat witzige Dialoge ersonnen, den Gesundheitsminister im Traum unbehandelt gelassen und sogar einem DDR-Promi aus dem Politbüro (der mit dem ominösen Zettel) Raum gegeben. Und wir haben viel gelernt. Da verzeihen wir ihr gern die alten Chirurgenwitze.

Caterina Westphal: Herzstation. Lach doch,
wenn du noch kannst. Eulenspiegel-Verlag,
320 S., geb., 20 €.

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