- Politik
- Regierungskrise in Großbritannien
Labour träumt von Downing Street
Die Sozialdemokraten hoffen wohl vergeblich auf vorgezogene Neuwahlen
Das Dilemma der Tories sorgt für Frühlingsgefühle bei der oppositionellen Labour Party. Der angekündigte Abgang von Premierministerin Truss weckt bei den britischen Sozialdemokraten Hoffnungen auf den Wiedereinzug eines Labour-Premiers in Number Ten, Downing Street. Doch ob Labour wirklich fit ist zu regieren und überhaupt die Chance zu vorgezogenen Parlamentswahlen erhält – regulär stehen die nächsten Ende 2024 an –, ist auch in den jüngsten Chaostagen an der Themse offen. Die regierenden Konservativen haben momentan vieles im Sinn, nur keine vorzeitige Wahl, wie lautstark Labour und Öffentlichkeit dies auch fordern. Zwar ist der Umfrage-Vorsprung der Labour Party zuletzt so groß geworden, dass er ihr in einer General Election sogar eine absolute Sitzmehrheit verheißt. Aber abgesehen von der kategorischen Weigerung der Tories, sich auf ein Neuwahlabenteuer einzulassen, gibt auch der innere Zustand Labours und die Attraktivität ihrer Spitze wenig Anlass zu Euphorie.
Es ist noch keine drei Jahre her, dass Labour unter Jeremy Corbyn bei der Unterhauswahl gegen Boris Johnson historisch abgestraft wurde. Vor allem in Nordengland, Ur-Labour-Land, verließen die Wähler die Partei in Scharen. Ihnen galt Corbyn als zu London-zentriert, zu weltfremd, zu wenig patriotisch. Und dies, nachdem derselbe Corbyn, langjähriger linker Hinterbänkler, vier Jahre davor, im September 2015, bei seiner Wahl zum Parteichef so viel Hoffnung ausgelöst und für eine Eintrittswelle vor allem junger Frauen und Männer gesorgt hatte.
Seine Botschaft damals war eindeutig: »Wir dürfen nicht in einer grotesk ungleichen Welt leben. Wir dürfen nicht in einer Welt leben, die sich selbst zerstört und sich nicht um die Schwächsten kümmert.« »Yez we can« war zur britischen Variante von Obamas »Yes we can« in den USA geworden – »Yez« ist der Spitzname für Jeremy. Doch auch mit Corbyn geriet Labour, wie so oft in seiner Geschichte, in zerstörerische Flügelkämpfe. Rücktritte zu Dutzenden, der Vorwurf, Corbyn-Getreue »säuberten« die Partei von gemäßigten Kräften, und eine unklare Position zum Brexit. Etwas bis dahin Unvorstellbares kam noch dazu: Labour, einst die Partei der Wahl für viele Juden, wurde vorgeworfen, antisemitisch zu sein.
Der Londoner Rechtsanwalt Keir Rodney Starmer, seit Kurzem 60, beerbte Corbyn im April 2020 als Labour-Leader und damit als Oppositionsführer im Parlament. Er hat Labour befriedet, allerdings um den Preis weitgehender Ausschaltung linker Kräfte. Partei wie Parteiführer sind weit davon entfernt, die Öffentlichkeit zu überzeugen, geschweige zu begeistern. Vor den Delegierten des Jahresparteitages Ende September in Liverpool bezeichnete Starmer – mit beiden Beinen fest in der Luft – die Seinen als Britanniens »Partei der Mitte« und forderte schon da Neuwahlen. Er feierte Labour als »politischen Flügel des britischen Volkes«, ein Slogan aus dem zentristischen Wahlprogramm von 1997, mit dem Tony Blair damals über die Konservativen siegte.
Starmer erklärte in Liverpool die britische Unterstützung der Nato für »unverhandelbar« und versuchte, Premierministerin Liz Truss das Thema Wirtschaftswachstum streitig zu machen. Man werde die Tories auf diesem Gebiet mit nicht näher genannten »besseren Konzepten bekämpfen«. Unter Labour im Amt werde das Land »fairer und grüner«, bis 2030 komplett mit nachhaltiger Energie versorgt und eine »Grüne Wachstumssupermacht« werden.
Als Reaktion auf Truss’ Rücktrittsankündigung betonte Starmer am Donnerstag: »Nach zwölf Jahren Tory-Versagen verdient das britische Volk so viel Besseres als diese Drehtür des Chaos. Die Konservativen dürfen auf das jüngste Durcheinander nicht erneut ohne Zustimmung der Briten mit einem bloßen Austausch ihrer Leute an der Spitze reagieren.« Labour sei zur Übernahme der Regierungsgeschäfte bereit, sagte er dem Sender Sky News.
Die Gewerkschaften, traditionell ein natürlicher, freilich oft vernachlässigter Verbündeter, sehen die Möglichkeit einer neuen Labour-Regierung unter Starmer heute so hoffnungsvoll wie skeptisch. Der hat die zahlreichen laufenden Streiks auf der Insel bislang nur lau unterstützt und die Mitglieder seines Schattenkabinetts angewiesen, sich keinerlei Streikposten anzuschließen. Unter Starmer, genau wie unter vielen früheren Labour-Führern, unterstützt die Partei diese nur selektiv.
Starmer sagte bei der Jahreskonferenz der britischen Dachgewerkschaft TUC diese Woche in Brighton zwar, Labour werde die Unions gegen die Angriffe der Tories verteidigen, falls diese »weitere Schritte zur Beschneidung von Arbeiter- und Streikrechten gehen«. Doch viele Gewerkschafter – zu viele – sind in die Jahre gekommen und alt genug, sich zu erinnern, dass das »New Labour«-Projekt von Tony Blair Gewerkschaftsinteressen nie konsequent, sondern immer nur gelegentlich berücksichtigte, etwa mit Einführung eines Mindestlohns.
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