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  • Berlin
  • Autofreie Friedrichstraße

Die Würde des Autos ist unantastbar

Das Straßenverkehrsrecht des Bundes behindert die Verkehrswende extrem

  • Nicolas Šustr
  • Lesedauer: 6 Min.

Der Knall kam am Dienstagmorgen. Das Berliner Verwaltungsgericht stellte in einer Eilentscheidung fest, dass die Sperrung eines Teils der Friedrichstraße in Mitte für Kraftfahrzeuge rechtswidrig ist. Dabei geht es wohlgemerkt nur um die Anordnung der Senatsmobilitätsverwaltung, mit der die Sperrung, die im Rahmen des im vergangenen Jahr ausgelaufenen Verkehrsversuchs erfolgte, bis zum Abschluss des laufenden sogenannten Teileinziehungsverfahrens des Abschnitts aufrechterhalten werden sollte.

Die Opposition war sofort mit Häme zur Stelle. »Der Senat hat seine Träume einer verkehrsberuhigten Friedrichstraße ausgelebt – mit dem Ergebnis, dass ein Gericht die Rechtswidrigkeit des Ganzen feststellte. Ich erwarte, dass Rot-Grün-Rot das Urteil akzeptiert und der Spuk ein Ende hat«, kommentierte CDU-Landeschef Kai Wegner.

Am Dienstagnachmittag machte dann die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) auf der Senatspressekonferenz aus der Schlappe in einer Etappe des noch nicht ausgeschöpften Rechtswegs einen handfesten Koalitionskrach, indem sie sagte: »Es ist ein Urteil gefallen und ich erwarte, dass dieses Urteil umgesetzt wird.« Mobilitätssenatorin Bettina Jarasch (Grüne) keilte am Dienstagabend im »Abendschau«-Interview zurück. »Ich bin mir nicht sicher, ob Franziska Giffey genau verstanden hat, worum’s bei diesem Urteil ging«, ließ sie wissen.

Das juristische Problem bei dem Verfahren ist die Straßenverkehrsordnung (StVO) des Bundes, die der »Flüssigkeit und Leichtigkeit des Verkehrs« absoluten Vorrang einräumt, immerhin seit 2009 noch ergänzt um die Sicherheit. Die StVO enthalte »keine Rechtsgrundlage, um den Fahrzeugverkehr allein wegen verkehrsordnungspolitischer Konzeptionen zugunsten des öffentlichen Nahverkehrs sowie des Anwohner- und Wirtschaftsverkehrs zu verdrängen«, so die 11. Kammer des Berliner Verwaltungsgerichts in ihrer Eilentscheidung vom Montag (VG 11 L 398/22). Geklagt hatte übrigens eine Lokal-Betreiberin aus einer Parallelstraße.

»Die Straßenverkehrsbehörden könnten die Benutzung bestimmter Straßenstrecken nur aus Gründen der Sicherheit und Ordnung des Verkehrs beschränken oder verbieten«, erklärte das Gericht. Vorausgesetzt werde »eine konkrete Gefahr für die Sicherheit oder Ordnung des Straßenverkehrs«, die Wahrscheinlichkeit müsse »das allgemeine Risiko« deutlich übersteigen. Auf den Punkt bringt das Inge Lechner von der aus dem Fahrrad-Volksbegehren hervorgegangenen Initiative Changing Cities: »Die StVO verlangt, dass Verkehrssicherheit mit Blut erkauft wird.«

Vor zwei Jahren kassierte die 11. Kammer des Berliner Verwaltungsgerichts in einer Eilentscheidung zunächst auch die Pop-up-Fahrradwege (VG 11 L 205/20), im August dieses Jahres eine Busspur auf der Clayallee in Zehlendorf (VG 11 L 345/22). Letztere unter anderem, weil laut einer bundesweit geltenden Verwaltungsvorschrift in der Spitze mindestens 20 Busse pro Stunde auf dem Abschnitt verkehren müssen. Das entspricht einem Drei-Minuten-Takt. Aber im Kern geht es immer wieder um eine sehr konkret nachgewiesene, deutlich über dem Durchschnitt liegende Gefahr für die Sicherheit, den Blutzoll eben.

In einem Positionspapier vom März fordert der Deutsche Städte- und Gemeindebund »deutlich mehr Entscheidungsbefugnisse, damit sie vor Ort geeignete Maßnahmen schneller umsetzen und die benötigte Mobilitätswende beschleunigen können«.

Anfang Oktober schickten die Verkehrsstadträte aller Berliner Bezirke einen gemeinsamen Brandbrief an Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP). Die ungewöhnliche Koalition aus acht Politikerinnen und Politikern der Grünen, drei der CDU und einer der Linken fordern darin »mehr Handlungssicherheit vor Ort« und wollen »den Bürgern und Bürgerinnen mit einer zügigen Umsetzung von verkehrlichen Maßnahmen Vertrauen in die behördliche Handlungsfähigkeit geben«.

»Für die StVO sind Straßen für den motorisierten Individualverkehr einfach heilig«, sagt Jochen Biedermann über die aktuelle Rechtslage zu »nd«. Der Grünen-Politiker ist Verkehrsstadtrat in Neukölln. »Wenn man etwas erreichen will, muss man sich mit Hilfskrücken wie Teileinziehungsverfahren wahnsinnig komplexe Verfahren an die Backe binden«, so Biedermann. Nach momentaner Gesetzeslage seien Forderungen wie die, den kompletten Reuterkiez zu einem Kiezblock mit flächendeckendem Tempo 20 zu machen, bei dem die Einfahrt, aber nicht mehr die Durchfahrt für Autos möglich wäre, überhaupt nicht umsetzbar. »Wir müssen die Handlungsfähigkeit über unsere Städte wiederbekommen«, fordert Biedermann.

Diesen Donnerstag hat der im Bundesverkehrsministerium für den Straßenverkehr zuständige Ministerialdirektor Guido Zielke den Stadträtinnen und Stadträten auf ihren Brief geantwortet. Darin vertröstet er sie auf eine Sonder-Verkehrsministerkonferenz (VMK) am 29. November. »Bitte haben Sie dafür Verständnis, dass ich diesen Beratungen nicht vorgreifen möchte«, heißt es in dem »nd« vorliegenden Schreiben.

Bereits im Mai fiel in der Konferenz der Verkehrsministerinnen und -minister der Länder und des Bundes der Beschluss, eine »länderoffene Arbeitsgruppe einzuberufen, die einen weitreichenden Konsens zwischen den teilnehmenden Ländern über eine Reihe praxisgerechter Handlungsvorschläge zur Anpassung des Straßenverkehrsrechts herstellen« sollte, blickt Zielke zurück. Die Behandlung des Themas bei der regulären Konferenz vor etwas über zwei Wochen wurde jedoch durch die zähen Verhandlungen über eine Nachfolgeregelung für das 9-Euro-Ticket verdrängt.

Für den weiteren Verlauf kündigt Guido Zielke für das Bundesverkehrsministerium an: »Anschließend werden die von der Arbeitsgruppe vorgestellten Handlungsvorschläge im Lichte der Besprechung in der VMK und unter Berücksichtigung auch verfassungsrechtlicher Gesichtspunkte im Bundesministerium für Digitales und Verkehr erörtert werden.« Neuköllns Verkehrsstadtrat Biedermann kommentiert das sarkastisch: »Aus Sicht von Bundesverkehrsminister Volker Wissing hat man wohl alle Zeit der Welt.«

Es ist aber nicht nur die Gesetzeslage, die den Fortschritt auf den Berliner Straßen in gefühlt nur homöopathischen Dosen sichtbar werden lässt. Es liegt auch an der Verwaltung.

»Allen muss klar sein, dass die Verkehrswende ein Generationenprojekt ist, das mit vielfältigen Widerständen konfrontiert ist«, sagt Kristian Ronneburg zu »nd«. Er ist verkehrspolitischer Sprecher der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus. »Der neue Planungsansatz – Vorrang für den Nahverkehr sowie den Fuß- und Radverkehr – muss sich weiter etablieren«, fordert er. Umso dringender sei es, dass die vielen neuen Stellen im Senat und den Bezirken besetzt werden. Dazu brauche es gerade lokal attraktivere Arbeitsbedingungen. »Die Ausstrahlungskraft der Bezirke, die Verkehrswende auch voranbringen zu wollen, ist hier auch ein entscheidender Faktor, denn es geht auch um Motivation. Hier rächt sich auch, dass die Straßen- und Grünflächenämter in vielen Bezirken über Jahre und Jahrzehnte in der Hand der CDU waren und so praktisch der Stillstand regierte und Personal in Größenordnungen abgebaut wurde«, so Ronneburg.

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