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»Du, die Berlinerin!«
Für die DDR, gegen die DDR: Mit »Wilde Mutter, ferner Vater« hat Jutta Voigt ihre Biografie romanhaft aufgeschrieben
Tucholskys Verse »An die Berlinerin« fallen einem gleich ein bei der Lektüre von Jutta Voigts neuem Buch. Sie erzählt darin von ihren Eltern Margit und Willi und von sich selbst, als Judy. Es ist kein Roman, aber eine romanhaft verdichtete Autobiografie, und das Verblüffende: Es ist irgendwie unser aller Lebensgeschichte, die letzten acht Jahrzehnte deutscher Geschichte in Berlin.
Als Judy 1942 im Prenzlauer Berg geboren wird, sind ihre Eltern blutjung, 18 und 19 Jahre. Der Vater muss gleich in den Krieg und lernt sie erst als Siebenjährige kennen. Margit und Willi wurden um ihr Leben betrogen, »weil der Krieg dazwischenkam«. Das Buch beginnt damit, dass sich die handelnden Figuren selbst einführen, sich uns gewissermaßen vorstellen, die Eltern, die Hauptfigur Judy und Henri, ihr Ehemann, der gar seinen eigenen Tod berichtet. Eine schöne Idee, die uns aus der Zuschauerposition beinahe zu Mitwirkenden macht.
Das Mädchen lebt mit Mutter und Großeltern immer im selben Kiez, rund um die Greifswalder und Danziger Straße, den Arnswalder Platz und den Kollwitzplatz; die Kinder wachsen auf zwischen Krieg und Frieden, zwischen der Liebe ihrer Eltern und dem Auf-sich-selbst-gestellt-Sein. Judy hat Mitleid mit den Eltern, die nur ein halbes Leben hatten oder nur ein halbes Leben konnten. Manchmal kommt es ihr im Rückblick gar so vor, als sei sie die Mutter und das junge Paar von damals die Kinder.
Die Erfahrung des Kriegs als Ausnahmesituation vertauscht die Perspektiven. Judys Mutter ist eine der Trümmerfrauen, die aus unendlichen Mengen Schutt den Bunkerberg im Friedrichshain aufhäufen. Da heißt es lapidar, »die Frauen räumten auf mit der Geschichte«. Doch die Berliner Nachkriegsgeschichte wird keineswegs idyllisiert. Es waren karge Jahre. Ohne alle Larmoyanz entsteht ein pralles Zeitbild. Die Heranwachsende empfindet: »Alles riecht nach Aufbau, Bohnerwachs und Bescheidenheit.« Aber sie nutzt ihre Chancen, etwas aus sich zu machen.
Mit kurzen, prägnanten Sätzen, voller Sprachfantasie und -witz, schafft sie diesen lange bekannten Jutta-Voigt-Sound, der ihr als Feuilletonistin und Buchautorin so viele begeisterte Leser verschafft hat. Entstanden ist ein Berlin-Roman mit dem Flair der heruntergekommenen Weltstadt. Bis 1961 ist Judy ein »Ostwestkind«, denn die Bernauer Straße gehört schon zum Wedding. 1958 trifft sie Henry in der »Möwe«, dem legendären Künstlerklub. Er ist Bühnenbildner, Regisseur und Brecht-Schüler.
Damit schlägt ihr Leben die Richtung ein, der sie dann für immer folgt. Als die Mauer gebaut wird, ist Judy noch keine zwanzig und schon verheiratet, in der ersten eigenen Wohnung. Damit ändert sich ihr Leben, nicht aber ihre Sehnsucht. Die Musik der Beatles und der Rolling Stones wird sie lebenslang begleiten.
Der ganz große Coup ist ihr Philosophiestudium an der Humboldt-Universität. Wenn da nicht der wunderbare Prof. Wolfgang Heise gewesen wäre, der sich Zeit nimmt für die junge Studentin, die ihren Weg noch sucht, hätte alles ein rasches Ende finden können. So aber lernt sie, Widersprüche auszuhalten – das vor allem! Und genau das wird ihr in ihrem Beruf immer wieder die Rettung sein. Ihre erste Stelle nach dem Studium findet sie in der Redaktion der Wochenzeitung »Sonntag«. Dort kann sie lernen, schreiben und ihren Stil ausbilden. Solche Redaktionsszenen sind ein Stück Geschichte für sich. Die Schreibtische hatten die Patina der Dreißigerjahre. Über allem hing der Geruch »von Rotwein, altem Durchschlagpapier und Hackepeterbrötchen«. Ein solches Redaktionsklima macht sie produktiv und erfinderisch. Es gelingt Jutta Voigt, besonders diese Zeit der Sechziger- und Siebzigerjahre ganz lebendig zu machen. Die setzt sie auch immer wieder in Beziehung zur Geschichte ihrer Eltern und zu dem, was danach folgt. Mit den Sechzigern geht die Aufbruchphase in der DDR zu Ende. Auch wenn die Kunstszene als Refugium in gewissem Sinne schützt, bleiben Desillusionierungen nicht aus. Sie ist dennoch froh, zwanzig Jahre mit einer Utopie gelebt zu haben.
Was sie zeigt, ist nicht das Verdrängte, sondern das Erlebte. Genau dies macht die Erzählung so inspirierend. Die Ideale, die die damals jungen Leute hatten, bleiben beflügelnd – selbst wenn sie an der Realität zerschellen. Der Freundeskreis ist das Beständige, das immer hilft, wenn nichts mehr geht. Darunter ist auch das Fotografenehepaar Sibylle Bergemann und Arno Fischer: »Es ging um Phantasie und Widerspruch, um die Wahrheit des Bildes und die des Landes, so hoch war der Anspruch. Gegen die DDR, für die DDR.« Dieses Buch muss man gelesen haben, wie man früher ihre Filmkritiken gelesen haben musste. Ob im »Sonntag«, später in der »Wochenpost« oder in der »Zeit«, Jutta Voigt hat man immer gleich erkannt. So fügt sie ihren Büchern wie »Der Geschmack des Ostens. Vom Essen, Trinken und Leben in der DDR« oder »Stierblutjahre. Die Boheme des Ostens« ein neues hinzu, das das Bild unserer Vergangenheit mit feiner Präzision weiterzeichnet.
Jutta Voigt: Wilde Mutter, ferner Vater. Aufbau, 255 S., geb., 22 €.
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