Netanjahu liegt klar vor Lapid

Rechter Ex-Regierungschef steht mit Hilfe von Rechtsextremen vor Rückkehr an die Schalthebel

  • Oliver Eberhardt, Tel Aviv
  • Lesedauer: 4 Min.

Freude und Frust sind nah beieinander an diesem Mittwochmorgen. Auf dem Mahane Jehuda, dem größten Markt West-Jerusalems, hat sich eine Gruppe junger Männer zusammengefunden; die Stimmung ist ausgelassen. »Nur Ben Gvir!«, rufen sie, während aus einem Radio nationalistische Lieder zu hören sind und sie im Kreis tanzen. Als ein Markthändler vorbeiläuft, der Araber sein könnte, rufen sie: »Tod den Terroristen!« Bis vor wenigen Tagen lautete der Schlachtruf, der in der Öffentlichkeit oft sehr lauten und immer männlichen Unterstützer der »Religiösen Zionisten« noch »Tod den Arabern«, bis die Führung des Parteienbündnisses die Devise ausgab, stattdessen von »Terroristen« zu sprechen.

Ein paar Meter weiter ist die Stimmung gedämpft, teils wütend. »Warum stimmen Israelis für solche Leute?«, fragt Joel, ein Mann mittleren Alters, während er seine Einkaufstüten zusammenknotet. Er selbst habe den Likud gewählt, sagt er, auch wenn er gewusst habe, dass Parteichef Benjamin Netanjahu eine Koalition mit den Rechtsradikalen anstrebe. Netanjahu war bis zu seiner Absetzung Anfang 2021 mehr als zehn Jahre lang Regierungschef; nun stehen die Chancen gut, dass er ins Amt zurückkehren wird. »Ich habe gehofft, dass die Stimmen reichen, um ohne die Ultrarechten zu regieren.« Doch das ist, Stand Mittwochnachmittag, nicht der Fall. Der Likud wird um die 30 der 120 Parlamentssitze erhalten, die »Religiösen Zionisten«, ein extrem rechtes Bündnis, können um die 15 Sitze erwarten. Hinzu kommen auf Netanjahus Seite die beiden ultraorthodoxen Parteien.

Die »Religiösen Zionisten« streben unter dem Strich nichts weiter an, als den Umbau Israels zu einem Staat, der sich allein nach den religiösen Werten der Ultraorthodoxen richtet. Araber und alle, die nicht zu 100 Prozent nach ihrer Definition jüdisch sind, sollen nicht in Israel leben dürfen. Und zu Israel gehören für sie auch die palästinensischen Gebiete.

Die Zusammenarbeit zwischen Netanjahu und diesem Bündnis wirft viele Fragen auf. Können sich Netanjahu und der Likud tatsächlich vorstellen, den »Religiösen Zionisten« das zuzugestehen, was diese fordern? Würde das Bündnis vielleicht von einigen der Forderungen abrücken? Oder hat Netanjahu vielmehr versucht, mit der Angst vor den Rechten mehr Wählerstimmen für den Likud und einige der Parteien zu gewinnen, die eine Koalition mit ihm wegen seiner Korruptionsanklage ablehnen?

Während die Wahlergebnisse langsam eintrudelten, bemühten sich Vertreter*innen des Likud, die Rechten als »nationalistisch« und legitimen Partner des Likud darzustellen. Immer wieder wurde auch die »Stabilität« erwähnt, die sich aus einer Koalition mit 65 Sitzen ergebe. Doch im privaten Gespräch äußern zumindest einige der künftigen Likud-Abgeordneten Zweifel daran: Es falle schwer, den Ultrarechten das zu geben, was sie verlangen, und sei es auch nur einen Teil davon.

Ein Argument, das dabei in den kommenden Wochen wohl eine große Rolle spielen wird, ist das sonst eher untergeordnete Ergebnis in Prozenten. Trotz der vielen Sitze dürfte der prozentuale Ausgang deutlich unter zehn Prozent liegen. Ein Mandat für eine Umformung der Natur des Staates sehe anders aus, sagt beispielsweise Merav Michaeli, Chefin der sozialdemokratischen Arbeitspartei, die nach eineinhalb Jahren in der Regierung nur knapp über der 3,25-Prozent-Wahlhürde landete. Sogar darunter landeten die linksliberale Meretz und die arabische Partei Balad. Da jede Liste, die es über die Hürde schafft, automatisch vier Sitze erhält, würde ein Einzug der beiden das Ergebnis der Rechten in Sitzen nach unten korrigieren.

Dementsprechend groß ist die Wut bei Arbeitspartei und Meretz, die ideologisch nicht sehr weit auseinander liegen. Parteimitglieder warfen den Führungen Versagen und Blindheit vor. Tatsächlich hatte sich Michaeli geweigert, mit Meretz auf einer gemeinsamen Liste anzutreten. Damit wären beide sicher über die Hürde gelangt. »Ich habe falsch gelegen«, sagt sie, »ich hatte geglaubt, dass wir als eigenständige Marken stärker sind.« Sie habe Chefin bleiben wollen, werfen ihr hingegen einige der Abgeordneten vor, die nun ihren Rücktritt fordern.

Bei Meretz klammert man sich indes an die Hoffnung. Am Mittwochnachmittag fehlen nur wenige hundert Stimmen, während mehrere Tausend noch nicht ausgezählt sind. »Ich hoffe, dass wir es noch drüber schaffen«, sagt die Meretz-Vorsitzende Zehawa Gal-On. »Dieses Ergebnis ist eine Katastrophe für das gesamte Land. Wir werden öffentlichen Widerstand gegen alles, was die Rechten tun, organisieren.«

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