Der lange Schatten der Miliz

Befriedet ist der Osten Kongos noch lange nicht. M23-Rebellen haben erneut Gebiete eingenommen

  • Judith Raupp, Goma
  • Lesedauer: 8 Min.

Gustave Abedi schaut angespannt unter seiner schwarzen Schirmmütze hervor. Er arbeitet als Wächter für einen reichen Europäer und muss dessen Haus beschützen. An diesem Tag bereitet ihm der Job noch mehr Stress als sonst. Die Bevölkerung in der ostkongolesischen Millionenstadt Goma demonstriert gegen das Nachbarland Ruanda und gegen die Friedensmission der Vereinten Nationen (UN), Monusco genannt. Manche ziehen gar gegen alle zu Felde, die fremd erscheinen.

Auslöser für die Wut der Bevölkerung ist der Krieg, den die Miliz M23 erneut angezettelt hat. Nach einem geheimen Bericht der UN, den einige internationale Medien einsehen konnten, unterstützt Ruanda die M23. Laut UN war das schon 2012 so, als die M23 sich von der kongolesischen Armee abspaltete und rebellierte. Die ruandische Regierung dementiert jegliche Unterstützung. Doch der Hass mancher Kongolesen auf die Nachbarn ist grenzenlos. Als das Gerücht aufkommt, der Kongo wolle Ruanda offiziell den Krieg erklären, applaudieren viele, die ihren Frust auf der Straße ablassen. Und jene, die seit Tagen in den sozialen Medien dem Nachbarland den Kampf ansagen.

Die M23 hält seit Juni die wichtige Handelsstadt Bunangana, 80 Kilometer nordöstlich von Goma, besetzt und hat am vergangenen Wochenende weitere Orte erobert, die von Lastwagen passiert werden müssen, um Lebensmittel und die zum Kochen wichtige Holzkohle in die Provinzhauptstadt Goma zu bringen. Die kongolesische Regierung hat deshalb den ruandischen Botschafter des Landes verwiesen und den eigenen Gesandten aus Ruandas Hauptstadt Kigali zurückgerufen.

Auch die ostafrikanische Staatengemeinschaft ist alarmiert, will die Staatschefs an einen Tisch bringen und fordert eine Verhandlungslösung. Es sollte zudem längst die Vorhut einer regionalen Eingreiftruppe mit Soldaten aus Kenia im Ostkongo angekommen sein, um gegen die M23 zu kämpfen. »Aber die haben nur Material abgeliefert und sind wieder gegangen«, erzählen Journalisten lokaler Radiosender vor Ort. Angeblich sollen sie jetzt wieder im Kongo unterwegs sein.

»Meine Familie lebt in Angst«, sagt Wächter Abedi. Er muss Frau und Baby wegen der Arbeit nachts allein zu Hause zurücklassen. Abedi erinnert sich noch gut, wie die M23 im letzten Krieg vor zehn Jahren in die Grenzstadt Goma einmarschiert ist. Tagelang hatte man hören können, wie der Kanonendonner näher rückte. Granaten sind in Wohnvierteln eingeschlagen. Als die Miliz kam, sind die kongolesischen Soldaten geflüchtet, und die Blauhelme blieben in ihren Kasernen. Aus Furcht, dass die M23 wieder Goma einnehmen könnte, evakuieren manche Hilfsorganisationen bereits ausländische Mitarbeiter. Die Botschaft der ehemaligen Kolonialmacht Belgien rät ihren Landsleuten, Frauen und Kinder aus der Stadt zu bringen.

»Unsere Regierung und unsere Armee haben nichts gelernt. Wir brauchen eine Revolution«, schimpft Abedi. Er heißt eigentlich anders. Aber sein Name muss geheim bleiben. Denn die Provinzen Nord Kivu und die Ituri sind seit Mai 2021 wegen der schlechten Sicherheitslage unter Militärherrschaft. Seither zählt Meinungsfreiheit noch weniger als vorher. So droht der Pressesprecher der Armee Journalisten, dass sie »Patrioten« zu sein hätten. »Das ist eure Aufgabe«, schärft er ihnen bei einer Fortbildung ein und lässt keinen Zweifel daran, dass es sonst ungemütlich werden könnte. Mehrere Dutzend Aktivisten und Journalisten sitzen nach Berichten von Amnesty International und der Organisation »Journaliste en Danger« willkürlich im Gefängnis, seit das Militär die Regierung und die Justiz übernommen hat. Mindestens vier Menschenrechtler wurden umgebracht, zwei entführt.

»Wir haben das Elend satt«, schimpft Abedi. Für ihn ist der Nachbar Ruanda der Hauptschuldige, nicht etwa die eigene Regierung, die es nicht schafft, das Land zu befrieden. Abedi trifft damit den Nerv Tausender, die aufgebracht durch die Grenzstadt Goma ziehen. Geschäfte, die ruandisch-stämmigen Kongolesen gehören, werden angegriffen, am Schlagbaum zum Nachbarland verbrennen aufgebrachte junge Männer eine ruandische Fahne. »Gebt uns Waffen. Wir jagen die Besatzer davon«, rufen sie. Straßen werden blockiert. Steine fliegen, UN-Hubschrauber kreisen, die Polizei schießt, um die Demonstranten davon abzuhalten, die ruandische Nachbarstadt Gisenyi zu stürmen.

Manche wünschen sich auf Plakaten den russischen Präsidenten Wladimir Putin herbei. Sie finden es gut, dass er in die Ukraine einmarschiert ist. Einen solchen »echten starken Mann« brauche das Land, besonders, wenn es gegen »den Westen« geht. Ein Großteil der Bevölkerung ist überzeugt, dass die Ausländer nur an den reichen Bodenschätzen des Kongo interessiert seien, aber nicht an deren Wohlbefinden.

Seit Monaten werfen wütende Menschen immer wieder Steine auf Autos der UN und von internationalen Hilfsorganisationen. Einzelne versuchen, in die Wohnungen von UN-Angestellten einzudringen, um sie aus dem Land zu jagen. Am Dienstagabend haben Männer am Ortseingang von Goma einen Lastwagen der Monusco verbrannt, weil sie überzeugt waren, die Blauhelme würden M23-Rebellen in die Stadt schmuggeln. Viele UN-Angestellte trauen sich nicht mehr, in Autos, die das Symbol der Vereinten Nationen tragen, durch Goma zu fahren. Sie mieten lieber lokale Taxen.

Das Misstrauen gegen ausländische Helfer und insbesondere gegen die Blauhelme sitzt tief. Auch Rebecca Kabugho von der Aktivistengruppe »Kampf für den Wandel« will, dass die Monusco abzieht. Sie hat sich trotz Malaria zur Demonstration gegen »ausländische Aggressoren und ihre Alliierten« geschleppt, wie sie das nennt. Am Tag danach ist sie völlig erschöpft, hustet ins Telefon, will aber, dass die Welt erfährt, was in ihrer Heimat los ist. Als die Ukraine überfallen wurde, sei der Westen zu Recht sofort zur Hilfe geeilt, habe Flüchtlinge aufgenommen und Solidarität bewiesen, sagt sie. »Aber wir sterben hier seit vielen Jahren, und es kümmert niemanden«, schimpft sie.

Wie Kabugho denken viele im Ostkongo. Denn der Konflikt hält an, seit im Nachbarland Ruanda 1994 der Genozid stattfand. Nach dem Massaker sind viele Täter von Ruanda in den Ostkongo geflüchtet, was Ruanda zum Vorwand nahm, mehrere Male im Kongo einzumarschieren, angeblich um die Völkermörder zu verfolgen.

Mit militärischer Hilfe Ruandas hatte Laurent Desiré Kabila 1997 den kongolesischen Diktator Mobutu Sese Seko gestürzt, wurde Präsident des Kongo und galt Ruanda als Garant für geopolitische Interessen. Kabila überwarf sich aber mit Ruanda. 1998 bis 2003 tobte erneut ein Krieg, in dem Ruanda und Uganda den Osten des Landes kontrollierten.

Seither ist die Region nie mehr zur Ruhe gekommen. Mehr als 120 in- und ausländische bewaffnete Gruppen morden, plündern, vergewaltigen und gieren nach dem Geschäft mit Bodenschätzen und Holz. Auch Angehörige der Armee und der Polizei verletzen laut UN die Menschenrechte. Nach verschiedenen Schätzungen sind seit 1997 mindestens 5,5 Millionen Menschen in Kämpfen oder auf der Flucht ums Leben gekommen. Die Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen wurden nie ernsthaft aufgearbeitet. Der kongolesische Friedensnobelpreisträger Dennis Mukwege fordert deshalb ein Tribunal mit kongolesischen und internationalen Experten. Verbrecher sollen zur Verantwortung gezogen und Opfer entschädigt werden.

Aktivistin Kabugho will im Moment allerdings vor allem, dass die M23-Miliz verschwindet. »Wir wollen endlich Frieden. Unsere Kinder sollen ohne Furcht in die Schule gehen können«, sagt sie. Ihre Bewegung »Kampf für den Wandel« setzt auf die kongolesische Armee, obwohl die Militärregierung ihre Kameraden einsperrt und Soldaten mutmaßlich mindestens einen Aktivisten getötet haben. Kabugho sammelt trotzdem Geld und Essen für die Kämpfer an der Front. »Wir haben nur die Armee. Die internationalen Organisationen sind seit mehr als zwanzig Jahren hier, aber es geht uns immer schlechter, und Frieden ist nicht in Sicht«, begründet sie ihre Unterstützung für das Militär, vor dem sie sich bisher in Acht nehmen musste.

Auf dem Handy blinkt plötzlich eine Nachricht auf. »Kann ich Sie sprechen«, fragt ein Parlamentsabgeordneter. Das ist ungewöhnlich, weil kongolesische Politiker eher selten mit Journalisten reden wollen, wenn im Land Krise herrscht. Mwanza Hamissi Singoma gehört der Präsidenten-Mehrheit an und vertritt den Wahlkreis Nyiragongo am Stadtrand von Goma. Dort kommen immer mehr Menschen an, die vor den Kämpfen flüchten. Die Koordinierungsstelle der UN zählt insgesamt 186 000 Geflüchtete, denen der neue Krieg das Zuhause geraubt hat. Viele leben unter freiem Himmel ohne Wasser oder Toiletten. Und das in einer Region, wo die Bevölkerung ohnehin arm ist.

»Die Lage ist schlimm, es sterben jeden Tag ältere Menschen an Erschöpfung«, sagt Singoma. Eine Aktivistengruppe schreibt von Frauen, die am Wegesrand gebären und Kindern, die sterben. Die Abgeordneten hätten bereits eine Million Dollar gesammelt, um Hilfsgüter zu kaufen. Das reiche aber nicht, die Geflüchteten bräuchten internationale Hilfe, drängt Singoma.

Nur, was tun, wenn die Helfer nicht helfen können, weil geschossen wird? Oder weil die aufgebrachte Bevölkerung sie angreift? Manche Geschäftemacher oder Politiker nutzen den Frust der Menschen, hetzen sie auf, weil sie vom Chaos profitieren oder vom eigenen Unvermögen ablenken wollen. »Ich werde mit den Dorfchefs reden und persönlich die Menschen aufklären«, verspricht Singoma.

Am Tag nach der Demonstration gegen die M23-Aggressoren ist es ruhig in Goma. Geschäfte, Schulen und Universitäten öffnen wieder. Die Verkäufer von Benzin und Telefonkarten kehren zurück, ebenso wie die Marktfrauen. »Komm, kaufe ein paar Orangen bei mir«, schreit eine Frau mit einem Baby auf dem Rücken. Sie muss ihre Ware jetzt teurer einkaufen, weil die M23 die Zufahrt im Norden der Stadt blockiert. »Viele Kunden bleiben weg, kaum jemand traut sich aus dem Haus«, klagt die Obstverkäuferin. Außerdem seien die Leute unzufrieden, weil die Preise gestiegen sind. Für umgerechnet 50 Cent gibt es jetzt zum Beispiel nur noch drei statt fünf Tomaten.

Manche Waren, wie Melonen, Fleisch oder Brot, kaufen die Marktfrauen normalerweise in der ruandischen Schwesterstadt Gysenyi ein, jenseits der Grenze. Kinder aus Ruanda besuchen Schulen in Goma, weil sie lieber Französisch als Englisch sprechen. Umgekehrt gehen manche aus Goma in Gisenyi in die Schule, um Englisch zu lernen. Zahlreiche Kongolesen leben in Gysenyi und pendeln zur Arbeit nach Goma. Denn in Ruanda sind die Mieten billiger.

45 000 Menschen pendeln täglich hin und her über die Grenze. Am Zoll sitzen kongolesische und ruandische Beamte nebeneinander. In der Schlange vor den Schaltern ist die Stimmung in der Regel friedlich. Krieg? Das wäre für diese Menschen eine Katastrophe.

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