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Kein Wandel durch Handel
Die Idee einer ausgewogenen Weltwirtschaft ist in Misskredit geraten, weil der wilde Westen versagt hat
Russland und vor allem China profitierten wirtschaftlich von der Globalisierung. Doch sie beugen sich nicht dem westlichen Globalisierungsdruck. Man mag also in Paris, London oder vornehmlich in Berliner Regierungskreisen konstatieren, dass das politische Konzept »Wandel durch Handel« gescheitert ist.
Es ist aber nicht gescheitert, weil inzwischen ein besseres Prinzip erfunden wurde, sondern weil der Handel, den der Westen angeboten hat, eine Mogelpackung war. Es gab zu wenig Wandel, weil der Handel der falsche war und den eigentlich erforderlichen Wandel behindert hat. Die Verbesserungen, die von westlichen Beratern und »Partnern« lauthals versprochen worden waren, blieben aus.
Dieses Fazit von Heiner Flassbeck und seinen Mitautor*innen – die Publizistin Friederike Spiecker und der Freiburger Physiker und Ökonomik-Student Constantin Heidegger – im am Montag erschienenen »Atlas der Weltwirtschaft 2022/23« zielt vor allem auf die Transformationsländer Mittel- und Osteuropas. Fast alle der betreffenden Staaten hatten ab 1990 die Entscheidung getroffen, sich der Marktwirtschaft zuzuwenden. Auch aus der Perspektive vieler Menschen im Westen war das eine richtige und erfolgversprechende Entscheidung.
Seit fast neun Monaten erschüttert der Ukraine-Krieg diese Wahrnehmung: »Spätestens jetzt muss die bisherige Sicht auf den Transformationsprozess grundlegend in Frage gestellt werden, um die Hintergründe dieses Krieges besser zu verstehen und Mittel gegen seine weitere Eskalation zu finden«, heißt es im Buch.
Zweifel am nachsozialistischen Transformationserfolg seien auch deshalb angebracht, weil selbst in den Ländern, die längst Teil des europäischen Binnenmarkts geworden sind, keineswegs überall ein »Wirtschaftswunder« eingesetzt habe. »Die Region ist gekennzeichnet von der Dominanz westlicher Unternehmen, massenhafter Abwanderung von Arbeitskräften und enormer politischer Instabilität, die bis zu offenem Antagonismus gegenüber der Europäischen Union reicht«, schreiben Flassbeck, Spiecker und Heidegger.
Die EU habe diese Länder mit »monetären Restriktionen« alleingelassen, was in drei Jahrzehnten keine hinreichende Investitionsdynamik zugelassen habe, obwohl eine derartige Investitionsschwäche nicht mit rein nationalen Mitteln überwunden werden könne. So hätten sich in diesen Ländern viele westliche Unternehmen, Banken und Versicherungen angesiedelt, die ihre hochproduktiven Fertigungsanlagen und Büros von vergleichsweise gering entlohnten Arbeitskräften bedienen ließen. Dadurch machten sie enorme Gewinne, sodass die Gewinnmargen um ein Vielfaches höher seien als in den heimischen Unternehmen.
»Integration« laute dazu das Zauberwort der EU. Es bedeute jedoch meist eine wirtschaftliche Bedrohung für die zu integrierenden Länder, weil der Westen nicht bereit sei, das zu tun, was wirklich notwendig wäre, um diesen Ländern eine in deren Sinne erfolgreiche Entwicklung zu ermöglichen. Die EU-Kommission, die die Aufgabe habe, diese Länder zu beraten und zu begleiten, versage, weil sie aufgrund ihres neoliberalen Credos nicht wahrhaben wolle, dass der Übergang zur Marktwirtschaft keine Erfolgsgeschichte für Mittel- und Osteuropa war.
»Ökonomische Aufholprozesse sind hochkomplex und keineswegs Selbstläufer«, mahnen die Autor*innen und werden diesem Anspruch mit Detailkenntnissen, harten Statistiken und einem theoretisch grundierten Blick für Zusammenhänge selbst gerecht. Sie zerlegen damit das hierzulande dominierende Zerrbild der ökonomischen und sozialen Verhältnisse in der weiten Welt.
Der Atlas zeigt, wie sehr sich die Probleme, mit denen die Länder dieser Welt ringen, gegenseitig bedingen. So werfen die Autor*innen auch ein Schlaglicht darauf, wie rücksichtslos die deutsche Wirtschaft und die Politik ihre egoistischen Interessen durchsetzen, etwa indem sie armen Ländern das Flüssigerdgas auf dem globalen Markt vor der Nase wegschnappen oder medizinisches Personal in aller Welt abwerben.
H. Flassbeck, F. Spiecker, C. Heidegger: »Atlas der Weltwirtschaft 2022/23. Zahlen, Fakten und Analysen zur globalisierten Ökonomie. Westend-Verlag, 128 Seiten, 19,95 Euro.
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