- Kultur
- Westberlin in den Achtzigern
Bonjour Tristesse
In »Skiff« rechnet Henriette Kraier mit dem gar nicht so autonomen Leben im Westberlin der 80er ab
Früher war alles aufregender. Zumindest, wenn man den richtigen Leuten lauscht. Wem »Die Abenteuer des Baron Münchhausen« zu realitätsnah sind, der sollte westdeutschen 68er-Veteranen zuhören, wenn diese ihre Revolutionslegenden zum Besten geben. Da werden noch einmal die arthritischen Handgelenke zur Faust geballt, während man den Kampf gegen das »Schweinesystem« heraufbeschwört, das heute die üppigen Pensionen bezahlt. Ja, damals, als man sich mit bloßem Oberkörper den Wasserwerfern der Hundertschaften entgegenstellte. Und die kleine Narbe am Brustbein erinnert an die gewaltsame Räumung des besetzten Hauses. (Oder war es doch der Kneipenabend, an dem man sturzbesoffen auf ein Tablett voller Biergläser fiel?)
Da können die Nachgeborenen natürlich nicht mithalten. Die jüngeren Geschwister der 68er, die sogenannten 78er, fanden eine Welt vor, in der die entscheidenden Schlachten bereits geschlagen worden waren. Und nach der Revolte warteten auf sie keine gut besoldeten Beamtenstellen im Schuldienst oder akademischem Mittelbau mehr, sondern der Taxischein oder eine Umschulung zum Programmierer. Das hielt die verhinderten Helden freilich nicht davon ab, ihre Nachhutgefechte publizistisch zu verklären. Der Journalist Reinhard Mohr lieferte vor 30 Jahren mit »Zaungäste« ein Generationenporträt, das in seiner unangenehmen Mischung aus Wehleidigkeit und Selbstbeweihräucherung den Anti-Nostalgiker Maxim Biller im »Spiegel« zu seiner vernichtenden Replik »Lang lebe der Einbauschrank« inspirierte (online nachlesbar).
Jene, die nach ihnen kamen, machten es auch nicht besser. Leider. Da waren die Musiker aus Hamburg, die mit ihren Songtexten in den 90er Jahren bewiesen, dass es eine Welt jenseits von Niedecken und Westernhagen gab, in der kluge deutsche Musik möglich war. Doch sobald sie anfingen, autobiografisch gefärbte Romane zu verfassen, endete die Herrlichkeit. Ob »Dorfpunks« von Rocko Schamoni oder »Es interessiert mich nicht, aber das kann ich nicht beweisen« von Frank Spilker (Die Sterne) – man wurde beim Lesen das Gefühl nicht los, dass diese Bücher vor allem der Selbstvergewisserung dienten: »Ich mag vielleicht ein wenig kaputt sein, aber dafür bin ich nicht so spießig wie Ihr.« Als vor Kurzem auch noch der Tocotronic-Bassist Jan Müller mit seinem Roman »Vorglühen« in die Gruft der Erinnerungen stieg, war die Popliteratur endgültig auf dem Niveau »Mein schönstes Ferienerlebnis« angelangt. Es liegt wohl in der menschlichen Natur, die Vergangenheit zu verklären.
Höchste Zeit für ein reinigendes Gewitter! Und das kommt aus einer Richtung, aus der man es nicht erwartet hätte. Aus dem äußersten Westen der Republik, von Mosel und Saar. Hier, an der Grenze zu Luxemburg und Frankreich, klopft der Zeitgeist in der Regel mit ein paar Jahren Verspätung an die Tür. Daher erreichte die 68er-Bewegung Trier erst 1975/76. Und das in abgeschwächter Form. Das mag der Grund sein, warum jene, die das Provinzleben satt hatten, früher in Scharen gen Osten flüchteten. So wie Henriette Kraier. Die Autorin von »Skiff« hat die 80er Jahre im fernen Westberlin verbracht, dem Sehnsuchtsort für Selbstverwirklichung. Da Westberlin offiziell nicht zur BRD gehörte, konnten junge Männer hier nicht nur der Wehrpflicht entgehen, sondern auch dem Zivildienst – so ersparte man sich anderthalb Jahre Zwang. Aber auch auf Frauen übte Berlin eine starke Anziehungskraft aus.
Während man im westdeutschen Hinterland Feminismus für eine Krankheit hielt, die von Alice Schwarzer übertragen wurde, war man in Berlin bewusstseinsmäßig weiter. Hier befand sich das Versuchslabor für neue Lebensformen. Da heißt es auch für die kleinbürgerliche Eisenbahnertochter Dagmar aus der saarländischen 40 000-Einwohner-Stadt Völklingen: Auf in die Metropole! Der Großstadtdschungel wartet. Klingt gut, nicht wahr? Das ist der Stoff, aus dem Legenden sind.
Denkste! Mit einem einfachen dramaturgischen Kniff umgeht Henriette Kraier die Falle der Vergangenheitsverherrlichung: Sie lässt die Geschichte aus der Perspektive von Dagmars 1979 geborenem Sohn Bruno erzählen. Und siehe da: Aus der Sicht eines vernachlässigten Kindergarten- und Grundschulkindes wirkt das wilde Großstadtleben nur noch halb so aufregend. Um genau zu sein: Es ist ziemlich deprimierend. Damit nicht genug verdoppelt Henriette Kraier geschickt das Elend. Ihr Roman »Skiff« beginnt damit, dass eben jener Bruno, mittlerweile 40 Jahre alt, verwirrt in einem Straßengraben aufgegriffen wird und erst mal in der Psychiatrie landet. So ist nach wenigen Seiten bereits klar: In dieser Biografie ist einiges schiefgelaufen. In der Folge entwickelt sich die Handlung in zwei Strängen. Im Wechsel erlebt man Bruno als emotional verwahrlostes Kind, das fragwürdige Überlebensstrategien entwickelt, und als depressiven Erwachsenen, der in der Reha-Klinik versucht, Orientierung zu finden.
Vor allem die Beschreibungen einer Westberliner WG-Kindheit in den 80er Jahren bieten reichlich Erkenntnisgewinn. Man vergisst ja immer, dass das öffentliche Bild gesellschaftlicher Bewegungen durch ihre Leitfiguren geprägt wird. Das waren einst Rudi Dutschke und Alice Schwarzer und sind heute Greta Thunberg und Luisa Neubauer. Dabei übersieht man, dass sich hinter solchen Schlüsselpersonen eben nicht nur überzeugte Aktivisten tummeln, sondern auch ein Vielfaches an Mitläufern. Menschen, bei denen man sich besser nicht fragt, hinter welchem Banner sie in anderen Zeiten mitmarschiert wären.
Das Gefühl, Teil einer machtvollen Bewegung zu sein, führt dabei schon mal zur Überschätzung der eigenen Bedeutung. In einem Brief an ihren erwachsenen Sohn entschuldigt Dagmar ihr Versagen als Mutter mit dem Verweis auf ihre historische Wichtigkeit: »Als Du klein warst, mussten wir ja alles neu erfinden, den Feminismus, die Umweltbewegung, die Anti-Atomkraft-Bewegung. Wir waren damit sehr beschäftigt und natürlich mit unserer Selbstverwirklichung.«
Vor allem mit Letzterer. Meisterhaft präsentiert »Skiff«, wie die Selbstverwirklichung im Katzenjammer endet. Auch das ist eine Wahrheit, die man in den nostalgiegetränkten »So wie wir waren«-Rückblicken in der Regel nicht findet: Dass viele Revoluzzer von dem ach so progressiven Leben schlicht überfordert waren. Nüchtern konstatiert Henriette Kraier: »Seine Mutter war fertig mit den Nerven, tags Uni, nachts Kneipenjob, immer Liebeskummer und dann das ständige Straßenkampfchaos. (…) Eine Krise jagte die nächste.« Erst Jahrzehnte später wird Dagmar bewusst: »Auch wir waren manipuliert und haben den Zeitgeist nicht selbst bestimmt.«
Eben dies führt »Skiff« im Detail vor: Wie die vermeintlichen Individualisten zur leichten Beute des Zeitgeists werden. Eben noch hätte man – fast – ein Haus besetzt (mit den Worten »Alles Poser« klinken sich die Frauen dann doch aus der geplanten Inbesitznahme aus), aber schon wenig später springt man freudig auf den Hedonismus-Zug der 80er auf. Was sich dadurch ändert: die Mode. Und: Statt Bier trinkt man jetzt Cocktails und Champagner. Spätestens an dieser Stelle kommt einem Kurt Tucholsky in den Sinn: »Wenn bei uns die Ideen populär werden, dann bleibt die Popularität, die Idee geht zum Teufel.«
Was außerdem bleibt: der Kater. Der große Seelenkater. Es wird zu viel getrunken und in der Folge zu viel gestritten. »Poltern und Geschrei. Bierflaschen fielen um. Es entstand ein Getümmel, in dem Bruno von irgendwem auf seine Matratze verfrachtet wurde. Türen knallten.« Aber »Lebbe geht weider«, wusste schon der Beinahe-Meister-Trainer Dragoslav Stepanović (Eintracht Frankfurt, 1992). »Für ein paar Wochen würden sich Gräben durch die Freundeslandschaft ziehen, Bier und Spaghetti würden sie zuschütten, Partys und Rausch darüber hinwegsausen, heikel besänftigend und keine Sicherheit bietend.«
Denn das hat der kleine Bruno früh begriffen: »Widersprüchlich war eigentlich alles bei den Erwachsenen, Anspruch und Wirklichkeit, Weltrevolution und Party, Reformkost und Alkohol. Unbegreiflich alles.«
Am Ende fällt die Bilanz für die widersprüchlichen Revoluzzer ernüchternd aus: »Brunos Bezugspersonen hatten ihren Spaß, eine Zeit lang, doch dann kamen Wohnungsangst, Hartz IV, Feinkostlosigkeit und die Aussicht auf ein Armenbegräbnis ganz ohne Punkband oder Mandolinenorchester, irgendwie und irgendwo wird man schon verscharrt.«
Henriette Kraier: Skiff. Verlag Op gen Beek,245 S., geb., 15 €.
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