Demokratie, aber autoritär

Ressentiments gegen Minderheiten nehmen laut Leipziger Forscher*innen im Osten weiter zu

  • Robert D. Meyer
  • Lesedauer: 4 Min.

Es ist ein trügerisches Bild, das die neue Autoritarismus-Studie der Universität Leipzig bei einem allzu flüchtigen Blick erwecken kann. Seit 2002 erfasst die Erhebung – früher unter der Bezeichnung »Mitte-Studie« bekannt – alle zwei Jahre, wie die Bevölkerung zur Demokratie und extrem rechten Ansichten steht. Es ist eine Langzeitbeobachtung, die Entwicklungen über mittlerweile zwei Jahrzehnte abbildet. Zentraler Befund der Studie für 2022: Klassischer Rechtsextremismus – die beiden Studienleiter Oliver Decker und Elmar Brähler sprechen von Neo-NS-Ideologie – spiele kaum noch eine Rolle. Bundesweit beträgt der Anteil von Menschen, die einem geschlossenen rechtsextremen Weltbild anhängen, gerade einmal noch zwei Prozent. Besonders deutlich ist der Rückgang in Ostdeutschland. Hier hatten die Forscher*innen 2020 einen Anteil von zehn Prozent ausgemacht, der sämtliche rechtsextremen Einstellungen teilt, jetzt sind es nur noch zwei Prozent. Insbesondere die Zustimmungswerte zu den rechtsextremen Merkmalen Diktatur-Befürwortung und Sozialdarwinismus seien zurückgegangen. »Das ist eine gute Nachricht, aber nur das halbe Bild«, schränkt Decker ein.

In ihren Arbeiten, so auch in ihrer neuen Erhebung, stellen die Wissenschaftler*innen immer wieder klar, »dass Bedrohungen der Demokratie nicht von ›extremistischen Rändern‹ ausgehen, sondern aus der Verbreitung von Ressentiments und autoritären Dispositionen in der gesellschaftlichen ›Mitte‹ entspringen«. Vorstellungen von Ungleichwertigkeit und völkisch-nationale Ideologien seien nicht auf den Rand der Gesellschaft begrenzt, sondern fänden sich in allen gesellschaftlichen Gruppen.

Dass dem so ist, belegt auch die am Mittwoch in Berlin vorgestellte Autoritarismus-Studie. »Während Elemente einer Neo-NS-Ideologie seltener sind, haben die Ressentiments gegen jene, die als ›anders‹ empfunden werden, sogar zugenommen«, warnt Brähler. Ost- und West entwickeln sich dabei teils sehr unterschiedlich. Während etwa der Prozentsatz an »manifest ausländerfeindlich Eingestellten« in Westdeutschland im Vergleich zur letzten Studie von 13,7 auf 12,6 Prozent leicht zurückging, stieg dieser in Ostdeutschland von 27,8 auf jetzt 31 Prozent.

Wie diese Unterschiede zustande kommen, zeigt ein genauerer Blick auf die den Befragten vorgelegten Behauptungen. So teilen 40 Prozent von diesen die Ansicht, Deutschland sei »durch die vielen Ausländer überfremdet«, während dies nur 23 Prozent der Westdeutschen tun. Ähnlich deutlich sind Unterschiede bei der Ablehnung von Muslim*innen. In Ostdeutschland fordern rund 46 Prozent der Befragten, »Muslimen sollte die Zuwanderung nach Deutschland untersagt werden«, während dies in Westdeutschland nicht einmal jede vierte befragte Person tut. Am deutlichsten sind die Unterschiede beim Antiziganismus. Über die Hälfte der Ostdeutschen »hätte Probleme damit, wenn sich Sinti und Roma« in ihrer Gegend aufhielten, unter den Westdeutschen sind es rund 35 Prozent. Bei den Befunden zu Antiziganismus und Muslimfeindschaft zeigt sich eine Stärke der Langzeiterhebung: Aus den Daten lässt sich herauslesen, dass die Ablehnung von Muslim*innen sowie von Sinti und Roma in Westdeutschland seit Jahren rückläufig ist, während die Entwicklung im Osten in die umgekehrte Richtung verläuft.

Vergleichsweise neu ist dagegen ein verstärkter Fokus der Studie auf Einstellungen zu Sexismus und Antifeminismus, hier wurde der Fragenkatalog zuletzt erweitert. Im Osten stimmen rund 31 Prozent der Befragten der Behauptung zu, »durch den Feminismus werden die gesellschaftliche Harmonie und Ordnung gestört«, im Westen behauptet dies etwa jede fünfte befragte Person.

Widersprüchlich wirken die Ergebnisse hinsichtlich der Beurteilung der Demokratie. Laut Autoritarismus-Studie ist die Zustimmung zu dieser Staatsform so hoch wie nie, deutschlandweit beträgt der Wert 82 Prozent, im Osten ist er sogar noch etwas höher. Allerdings ist gerade einmal die Hälfte der Befragten mit der demokratischen Alltagspraxis einverstanden, rund 74 Prozent stimmen dieser Aussage zu: »Leute wie ich haben sowieso keinen Einfluss darauf, was die Regierung tut.« Nach Ansicht von Decker und Brähler kann sich die Politik in Bund und Ländern auf eine breite Zustimmung stützen, gleichzeitig würden in breiten Teilen der Bevölkerung »Ohnmachtsgefühle und die Einschränkungen des eigenen Lebens« in Kauf genommen. Dies führe zu einer Steigerung der autoritären Aggressionen gegen gesellschaftliche Gruppen, die als anders empfunden werden. Decker warnt: »Der gleichzeitige Anstieg des Antifeminismus, von Schuldabwehrantisemitismus und auch des Hasses auf Muslime, Sinti und Roma zeigt eine Verschiebung der Motive antidemokratischer Einstellung an, nicht eine Stärkung der Demokratie.«

»Die Studie zeigt: Wir brauchen eine engagierte demokratische Bildungsarbeit für die vielfältige, liberale Demokratie«, meint Jan Philipp Albrecht, Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung, die die Studie zusammen mit der Otto-Brenner-Stiftung herausgibt. Er warnt: »Einen Gewöhnungseffekt an autoritäres Gedankengut darf es nicht geben.«

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