Viel Kampf und wenig Hoffnung

Sierra Leoner protestieren seit einem Jahr in München. Noch immer haben sie keine Bleibeperspektive

  • Jonas Wagner, München
  • Lesedauer: 5 Min.
Demonstration vor einem Jahr in München gegen Abschiebungen nach Sierra Leone
Demonstration vor einem Jahr in München gegen Abschiebungen nach Sierra Leone

Es ist die längste Dauermahnwache in der Geschichte Münchens: Seit mehr als einem Jahr protestieren sierra-leonische Geflüchtete in der bayerischen Landeshauptstadt. Sie kämpfen gegen Abschiebungen und dafür, endlich Bleibeperspektiven zu bekommen. »Wir dürfen nicht arbeiten und keine Ausbildung machen«, sagt Umar Barry, einer der Protestierenden. Die meisten Geflüchteten seien schon seit über fünf Jahren in Deutschland und versuchten, sich zu integrieren und an der Gesellschaft teilzuhaben. »Wir haben ein Leben«, erklärt Barry, »aber wir dürfen es nicht leben.«

Der Protest hatte im Oktober vergangenen Jahres begonnen. Damals mussten etwa 300 sierra-leonische Geflüchtete aus ganz Bayern zur Zentralen Ausländerbehörde in München-Obersendling kommen. In Anhörungen vor einer sierra-leonischen Delegation sollte ihre jeweilige Identität zweifelsfrei geklärt werden, damit ihnen Heimreisedokumente ausgestellt werden können. Denn die Sierra Leoner*innen sind in Deutschland nur geduldet. Ihre Fluchtgründe werden von der Bundesrepublik nicht anerkannt. Deshalb wurden ihre Asylanträge abgelehnt.

Die Geflüchteten sind also gezwungen, Deutschland zu verlassen. Eigentlich. Doch weil sie keine Reisepässe haben, können die deutschen Behörden sie nicht abschieben. Durch die Anhörungen könnte sich das ändern. Das war zumindest die Hoffnung des bayerischen Landesamts für Asyl und Rückführungen – und gleichzeitig die Furcht der Geflüchteten.

»Wir hatten alle Angst und wussten nicht, was wir in dieser Situation machen sollen«, erinnert sich Umar Barry. Also schlossen sich die Sierra Leoner*innen zusammen. Sie campierten erst vor der Ausländerbehörde und danach an unterschiedlichen anderen Plätzen Münchens, um auf ihre Situation aufmerksam zu machen.

Seit mehr als acht Monaten haben sie ihre Zelte auf dem Georg-Freundorfer-Platz im Stadtteil Schwanthalerhöhe, auch Westend genannt, aufgeschlagen. Hier kommen sie in Kontakt mit Anwohner*innen und erfahren viel Unterstützung, etwa von zwei Kirchen in der Nähe, in denen sie schlafen, duschen und Essen zubereiten können. »Uns war es wichtig, nicht zu sagen: Wir bekochen die Sierra Leoner«, erzählt Sibylle Stöhr (Grüne), die Vorsitzende des Bezirksausschusses Schwanthalerhöhe. Vielmehr habe man gewollt, dass die Geflüchteten selbst agieren können. »Das ist mit das Wichtigste: Dass sie aus der Rolle, alles erdulden zu müssen, in eine handelnde Rolle kommen.«

Selbst handeln und sich um die eigene Zukunft kümmern – gerne würden die Geflüchteten das tun. Doch sie stecken in einem Dilemma: Ohne Reisepass haben sie häufig keine Chance, eine Ausbildung anzufangen oder eine Arbeitserlaubnis zu bekommen. Doch mit Reisepass kann ihnen die Abschiebung drohen. »Das sind alles junge Leute – wenn die hier geboren wären, hätten sie einen Ausbildungs- oder Studienplatz«, sagt Stöhr. »Ich finde es so dramatisch, dass ihnen das verwehrt wird.«

Konnte ein Jahr Protestcamp etwas an der Situation der Geflüchteten ändern? Nadine Kriebel vom Bayerischen Flüchtlingsrat erklärt, dass sich auf der politischen Ebene nicht viel getan habe. Dennoch ist das Protestcamp in ihren Augen ein Erfolg. Durch die Vernetzung mit anderen Geflüchteten und mit Unterstützer*innen, so Kriebels Eindruck, hätten viele Sierra Leoner*innen das Gefühl von Selbstwirksamkeit wiedererlangt. »Die Verwurzelung im Westend gibt den Leuten Empowerment.« Das sei schon etwas anderes, als in einem Dorf in Niederbayern in einer Sammelunterkunft zu sitzen und nichts tun zu können, sagt Kriebel.

Deshalb wünschen sich viele Geflüchtete, die eigentlich in niederbayrischen Heimen leben, durch das Protestcamp aber Anschluss in München gefunden haben, in die Landeshauptstadt umziehen zu dürfen. Hier haben sie bessere Chancen, Sprachkurse zu absolvieren, medizinische Betreuung zu erhalten, Arbeits- oder Ausbildungsplätze zu finden und sich mit Unterstüzter*innen und Leidensgenoss*innen auszutauschen.

Die Umzugserlaubnis ist daher eine der zentralen Forderungen von Protestierenden und Lokalpolitiker*innen. Nadine Kriebel sagt: »Am besten wäre es, den Leuten den Zugang zu Arbeit und Deutschkursen zu ermöglichen, unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus.« Denn nur so könnten sie Teil der Gesellschaft werden, in der sie ohnehin schon leben.

Und in der sie vermutlich auch weiterhin leben werden. »Wir kennen keine Fälle, wo aufgrund der Anhörung abgeschoben wurde«, sagt Kriebel. Dass auch über ein Jahr nach den Anhörungen im Oktober 2021 nichts passiert sei, zeige, dass Sierra Leone nicht so kooperiere, wie es von bayerischer Seite möglicherweise gewünscht gewesen sei. »Die sierra-leonische Regierung hat kein besonders großes Interesse daran, dass die Leute zurückkommen«, erklärt Kriebel.

Dennoch ist die Situation der Sierra Leoner*innen in Bayern prekär: Realistische Bleibeperspektiven gibt es laut Kriebel bislang nur in Einzelfällen. Der Protest der Geflüchteten geht deshalb weiter. Am 19. November wollen sie bei einer Demonstration erneut ihre Forderungen stellen.

Wie es mit dem Camp weitergeht, ist noch unklar. Angemeldet ist es nach Angaben des Münchner Kreisverwaltungsreferats derzeit bis Ende November. Um den Status als Dauermahnwache zu erhalten, muss allerdings durchgehend jemand vor Ort sein – eine hohe Hürde für den bevorstehenden Winter. Doch die Teilhabe an der Gesellschaft, die sie im Münchner Westend erfahren, wollen die Geflüchteten nach Kriebels Eindruck nicht aufgeben, sondern erhalten. »Die Frage ist nur, wie.«

Dass die 30 bis 50 Sierra Leoner*innen, die sich im Camp einbringen, bald wieder ihre eigenen Wege gehen, dürfte also unwahrscheinlich sein. »Es ist besser, zu kämpfen und vielleicht zu verlieren«, sagt Umar Barry, »als nur hier zu sitzen und trotzdem zu verlieren.«

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