- Sport
- Schwimmen in der Corona-Zeit
Überholen verboten
Über Wasser: Der erste Corona-Sommer im Sommerbad Humboldthain brachte einige Sonderheiten mit sich
Es knirscht. Ich stehe hinter einem Mann in Badehose und Badelatschen, der die Arme ausbreitet, als wolle er das ganze Schwimmbad umarmen. Dabei ist er näher an den Überlauf des 50-Meter-Beckens getreten. Und es hat geknackt. Wir schauen beide auf die randlose Brille, die jemand auf dem Ablaufgitter abgelegt hat. Ein Glas ist abgebrochen, der zarte goldene Bügel zittert verwaist in der Luft. Der Mann bewegt sich von der Brillenleiche vorsichtig nach rechts, schlüpft aus den Badelatschen und steigt die nahen Stufen ins Becken hinab. Schwimmt los, ohne sich umzudrehen.
Anne Hahn ist Autorin von Romanen und Sachbüchern und schwimmt für »nd« durch die Gewässer der Welt. Alle Texte auf dasnd.de/ueberwasser
Berlin, Juni 2020, 14 Grad. Das Sommerbad Humboldthain hat geöffnet. Ich habe vier Tage vor dem dreistündigen Zeitfenster auf der Webseite der Berliner Bäderbetriebe sekundengenau auf Kaufen geklickt – es dauerte noch etliche Eingaben, bis ich an mein Ticket für 3,80 Euro kam. Der Einlass heute geht schneller, Ausdruck mit QR-Code gescannt, Beutel auf Glas abgetastet und eine kurze Schlange Schwimmwilliger betritt mucksmäuschenstill mit Masken und Abstand das Bad.
Entlang rot-weißer Absperrbänder und roter Pfeile tippeln wir an den geschlossenen Duschen vorbei nach ganz hinten auf die Wiese. Dort auf einer Holzbank umgezogen hänge ich meine Badetasche über den Maschendrahtzaun, wate durch die Eingangs-Schleuse und schlappe zur 50-Meter-Bahn. Bademeisterpaare patrouillieren, verweisen Gäste, die mit Taschen die Schleuse passiert haben, wieder hinaus und korrigieren Anzahl und Abstände der Schwimmenden.
Der Herr mit der wehenden Weißhaartolle ist eine halbe Bahn entfernt, und ich stehe bis zur Hüfte im Wasser, als ein Bademeisterduo naht. Ich zögere und petze dann doch. »Die Brille hier hat dieser Herr dort eben zertreten, nur falls jemand danach fragt …« Der junge Bademeister schaut auf den Dahinschwimmenden und sagt: »Tststs, der Herr Kolumnist, das ist aber ziemlich unmoralisch!« Jetzt habe ich den Mann mit seiner dickrandigen Brille auch erkannt.
Ich gleite ins Wasser und lege los, Brust, fünfzehn Schwimmer pro Doppelbahn. Immer im Kreis. Nicht alle haben die gleiche Geschwindigkeit, einige Langsamere warten am Bahnende darauf, dass die Schnelleren überholen, andere nicht. Schon bildet sich eine Überholspur in der Mitte, die Freistilschwimmer bleiben gleich dort. Es räuspert sich umgehend und quietscht.
Die Bademeisterin im Hochsitz schimpft per Megaphon: »Überholen verboten! Nutzen Sie das Beckenende, um zu überholen! Auf der Bahn wird hintereinander geschwommen!«
Ich schwimme einen Tick langsamer und kreuze vor Bahnende nach links. Jetzt Rücken. Watsch, ich habe einen Fuß abbekommen, kurzes Zunicken, der Mann vor mir strampelt schneller. Nach einer weiteren Bahn saust neben mir etwas ins Wasser, klatscht. Die Bademeisterin steht am Beckenrand, mit wütendem Gesicht und einer Schwimmnudel bewaffnet, die sie soeben auf dem Kopf eines Schwimmers niedersausen ließ. »Überholen verboten«, brüllt sie dem zu Tode erschrockenen Mann zu, der flüchtend abtaucht.
Die Bademeisterin verfolgt ihn nebst Nudel, zum Glück ohne Megaphon. Das hat ihre Kollegin übernommen und informiert die Schwimmer auf der Außenbahn, dass sich dort zu viele Personen befänden. Am Ende meiner Bahn haut die Nudel wieder auf eine Badekappe, es beginnt zu nieseln und meine Lust am Badeausflug schmilzt dahin.
Als ich fröstelnd den Ausgang in den Park erreiche, knarzt das Megaphon: »Die Personenansammlung vor der Rutsche – auflösen, sofort!«
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.