• Kultur
  • Max Goldt und Rattelschneck

»Tutti rolla intro, quelques kulla extra!«

Vergessen zwar und doch unvergesslich: »Die Mulde« von Max Goldt und Marcus Weimer

  • Fritz Tietz
  • Lesedauer: 6 Min.
Brutal und frozzelnd, mal garstig, mal betulich: Ein Ausschnitt aus der »Mulde«, Mai 1992
Brutal und frozzelnd, mal garstig, mal betulich: Ein Ausschnitt aus der »Mulde«, Mai 1992

Die erste »Mulde« erschien im Satiremagazin »Kowalski« 1991. »Warum die Mulde?« ist dort eine als »Eigener Bericht« ausgewiesene Erklärung überschrieben. »Weil wir geschwiegen haben«, so fasst darin der ungenannte Verfasser das heikle Thema an. Um dann en détail zu bekennen: »Wir schwiegen, als die Günderode in den Rhein ging. Wir schwiegen zu Königgrätz. Wir schwiegen 1914. Wir dösten, als Otto Wels zum letzten Mal frei sprach. Wir schwiegen in Nürnberg und Stalingrad. Wir schwiegen am Wannsee und wir schwiegen am Obersalzberg. Auch am 17. Juni 1953 schwiegen wir, wie wir stumm blieben am 13. August 1961. Wir schwiegen zu Profumo und zu Prag. Wir schwiegen zu Filbinger und zu österreichischem Wein.« Aber »nun«, so endet schließlich die selbstbezichtigende Litanei, »hat unser Schweigen ein Ende. Wir rufen, so laut wir können: Tutti rolla intro, quelques kulla extra! DIE MULDE!« Alles klar. Darum also.

»Die Mulde« war eine jeweils vier Seiten füllende High-Nonsense-Beilage in »Kowalski«, sie erschien von Oktober 1991 bis September 1992. Und zwar als »Kuckuckszeitung«, wie sie die »Mulde«-Macher, »die Vögel Mutter Marcus Weimer und ihre Eier Wiglaf Droste u. Max Goldt« im Impressum der Premieren-Nummer nannten. Die drei seien, so war dort in tadelloser Handschrift zu lesen, »von der Natur nicht so disponiert, dass sie ihr eigenes Nest bauen könnten, und deshalb brüten sie im strohigen Nest der Kowalski«. Also in jenem legendären Witzblatt, das, wie man heute wohl erläutern muss, von 1987 bis 1993 in Hamburg erschien.

Finanziert vom Kieler Semmel-Verlach, den die Comicfigur Werner reich gemacht hatte, setzten die »Kowalski«-Gründer, die ehemaligen »Titanic«-Mitarbeiter Hans-Werner Saalfeld und Richard Kähler, eher auf den gepflegten Mumpitz als auf die endgültige Satire ihres vormaligen Arbeitgebers. Dort soll man übrigens nach Erscheinen der ersten »Mulde« entgeistert ausgerufen haben: »Verdammt, warum haben wir diesen Scheiß nicht im Heft!«

Als der »Scheiß« dann im November 1991 zum zweiten Mal in »Kowalski« erschien, sah sich die frisch eingemuldete Leserschaft mit einer gravierenden Änderung konfrontiert. Zwar unterschied sich das »Kampfblatt gegen Zeichnungen von Prominenten mit langen Zähnen und viel Kinn«, das es nun laut Impressum plötzlich sein wollte, in seiner wusel- und wimmeligen Aufmachung kaum von der Premierennummer. Es hieß jetzt bloß nicht mehr »Die Mulde«, sondern »Die Schlechten im Bett bzw. Die Schlechtimbetten vormals Die Mulde«. Und direkt unter dem neuen Titel war in einem »Das Tja zur Lage« überschriebenen Kommentar zu lesen, warum: »Tja, Freunde, es hat sich ausgemuldet. Aber wir wollen als Künstler halt mal ›was Neues‹ machen. Die Mulde ist tot, es lebe die Schlecht-im-Betten. Eure Ex-Muldis.«

Auch wenn dann die dritte Ausgabe wieder »Die Mulde« hieß, kam es zu einigen weiteren, wenn auch stets gut begründeten Namensänderungen. So bereits im Januar, als die vierte Ausgabe wie aus dem Nichts »Love Express vormals Die Mulde« hieß. Und zwar, weil man »den belgischen Weg« gegangen sei, nämlich: »Hohe Schulden, eine tiefe Kluft zwischen den einzelnen Gruppen und wenig Akzeptanz bei den breiten Massen. Deswegen ist die Mulde eingegangen. So wie auch Belgien bald zerbröselt, wenn es sich nicht vorsieht. Der Love Express wird diese Fehler nicht wiederholen.«

Nach dreimonatiger Namenskonstanz als »Die Mulde« mit lediglich zwei neuen Untertiteln im Februar (»Zeitung für Leute, die nicht wollen, dass alles kaputt gemacht wird«) und März (»Eine Tour de frappe durch Sachen, an die wir uns noch nicht gewöhnen mochten«) hieß die Zeitung im Juli plötzlich »Die Mulze«. Dies aber nur, weil »in diesem Zweckform-Selbstklebe-Schmuckbuchstaben-Set«, aus dem der Titel gelettert war, »es nur ein D gab«. Und nachdem im August die »Mulde« sogar als »Die (THE !) Infothek für Irls mit ›’nem‹ G davor und Engel mit ›’nem‹ B davor« firmierte, hieß es im Impressum der allerletzten »Mulde«-Nummer (was zu deren Erscheinen allerdings nicht unbedingt glaubhaft war, weil das Ende schon einige Male zuvor proklamiert worden war): »Die Mulde sagt Adieu, bye bye und leise Servus. Ein Experiment geht von Bord. Moppel und Butzebärchen stehen winkend an der Bahnsteigkante der Innovation. Hat sich das Experiment gelohnt? Diese Frage soll die Geschichte beantworten, wir warten ab und trinken eine Tasse duftenden, frischgebrauten Kaffees.«

30 Jahre nach diesem 48 furiose »Mulde«-Seiten abrundenden Kaffee kann man wohl sagen: Ja, es hat sich gelohnt. Oder wie es der langjährige »Kowalski«-Redakteur Günther Willen formulierte: »›Die Mulde‹ war großartig und irgendwie bahnbrechend in Sachen Komik, stach raus in ›Kowalski‹. Hätten uns ruhig mehr schmücken sollen mit der Mulze – gut, man hätte auch ›The Mulde‹ draus machen können.«

Fraglich nur, ob das »The« verhindert hätte, was das »Die« nicht vermochte: Dass »Die Mulde« danach so gut wie komplett in Vergessenheit geriet. Weder Google noch Wikipedia noch eines der sonst jeden Kalauer archivierenden hiesigen Humorarchive hat »Die Mulde« auf dem Schirm. Selbst die Muldenmacher scheinen ihr Meisterwerk vergessen zu haben. Jedenfalls wird es in keinem ihrer Werkeverzeichnisse erwähnt.

Wer »Die Mulde« heute wieder oder neu entdecken will, muss sich die entsprechenden »Kowalski«-Hefte bei eBay oder sonst wie besorgen. Dann aber wird man beim Durchstöbern des »schlampigen Layouts« (G. Willen) auf allerhand ungestümes und epochales Zeug stoßen. Und feststellen, dass »Die Mulde« trotz ihres hohen Alters über ein beachtliches Schmunzel- und Lachpotenzial verfügt.

Der inzwischen mehrfach lorbeerbekränzte und gerade erst für seine Verdienste um die deutsche Sprache mit dem Jacob-Grimm-Preis ausgezeichnete Musiker und Schriftsteller Max Goldt (alias Moppel) und der Zeichner Marcus »Butzebärchen« Weimer (heute eher berühmt als die Berliner Hälfte des in Berlin und New York wirkenden Zeichner-Duos Rattelschneck), waren die alles entscheidenden Muldenkräfte. Eingangs erwähnter Wiglaf Droste gehörte dem »Mulde«-Team nicht lange an. Sein eher grobschlächtiger Humor missfiel den beiden anderen, sodass sie Droste (gestorben 2019) kurzerhand feuerten.

Produziert wurden die »Mulden« jeweils an einem Wochenende in der »Kowalski«-Redaktion. Dazu reiste »Hauptstadt-Moppel« Goldt einmal im Monat eigens nach »Freie- und Hanseburg«, um dann zusammen mit Weimer, der in St. Pauli lebte, in den vom Normalbetrieb befreiten Redaktionsräumen an der Hamburger Schilleroper eine neue »Mulde« herzustellen. Vorbereitet hatten die beiden in der Regel so gut wie nichts. Alle Texte und Zeichnungen entstanden während der Produktionstage, erinnert sich Goldt im Gespräch mit dem »nd«. Was er jedoch stets aus Berlin mitbrachte, war sein Klebebuch mit zahllosen kruden Fundstücken aus Zeitungen und Illustrierten, von denen dann etliche mithilfe des Kowalski-Kopierers in »Die Mulde« rübermachten.

Neben den gewohnt abstrusen, mal haltlos albernen, mal brutal komischen Bravourstücken aus dem Bic-Kugelschreiber des heute 58 Jahre alten Rattelschnecks Weimer, waren es vor allem die als Tratsch, Gesellschaftskritiken, Hintergrundberichte, Kommentare oder Predigten getarnten, mal frozzelnd, mal garstig, mal betulich, mal blasiert ausfallenden Texte von Max Goldt, die maßgeblich das Flair der »Mulde« ausmachten.

Besonders angetan war Zeitschriftenmacher Goldt offenbar von den Möglichkeiten, ein Impressum zu gestalten. Zuweilen waren es gleich mehrere, die er pro »Mulde« füllte. So auch in jener März-Ausgabe, in der er in einem von zwei »Erpressi«, wie die Impressen dieser »Mulde« hießen, diese ganz klare Botschaft an die Leserschaft richtete: »Boys, die gerne Mulde lesen, haben schöne Penisse. Boys, die nicht gerne Mulde lesen, haben krumpelige Penisse, aus denen grünlich Mißgunst tropft.«

Offenlegung: Fritz Tietz war bis März 1992 Mitglied der »Kowalski«-Redaktion.

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