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  • Fußball-WM 2022 in Katar

Eine WM als Schutzschirm

Noch nie gab es so viel Kritik vor einem Fußballturnier wie an dem in Katar. Ist das berechtigt oder scheinheilig?

  • Daniel Theweleit, Doha
  • Lesedauer: 7 Min.
Fifa-Präsident Gianni Infantino (l.) und Katars Emir Tamim bin Hamad Al Thani waren in den letzten Jahren unzertrennlich.
Fifa-Präsident Gianni Infantino (l.) und Katars Emir Tamim bin Hamad Al Thani waren in den letzten Jahren unzertrennlich.

Es werden wieder einmal unangenehme Bilder sein, die am Sonntag von der Fußballbühne in die Welt gesendet werden. Gianni Infantino wird die Fußball-Weltmeisterschaft eröffnen und vermutlich auch den katarischen Machthabern einen hübschen Rahmen zur Selbstpräsentation geben – so wie der Präsident des Weltverbands Fifa vor vier Jahren Wladimir Putin bei der WM in Russland hofierte, umschmeichelte und damit letztlich auch legitimierte. Diesmal wird in der von der Fifa selbst produzierten Bilderflut, die den Hauptteil der globalen Berichterstattung ausmacht, ein Land erstrahlen, in dem Homosexuelle als Kriminelle behandelt werden, in dem Frauen unterdrückt und Millionen Arbeitsmigrantinnen und -migranten ausgebeutet werden, oft bis sie vor Erschöpfung sterben.

Selbst der berüchtigte Sepp Blatter, der bei der Vergabe 2010 noch Präsident der Fifa war, hat die damalige Entscheidung mittlerweile als »Fehler« bezeichnet. Nutzen die Katarer die WM also tatsächlich zuallererst als große Imagepolitur, während weiterhin auf allen Ebenen Menschenrechte missachtet werden und die Sportwelt korrumpiert wird? Oder steckt hinter der zumindest in Deutschland allgegenwärtigen Kritik, die noch kein WM-Gastgeber und kaum ein Verbrecherstaat dieser Welt in dieser Form je erlebt hat, eine eurozentristische Sichtweise, die einen Teil der Realität ausblendet, wie Uli Hoeneß glaubt?

Im Oktober hatte der langjährige Präsident des FC Bayern München live in einer Fernseh-Talkrunde angerufen, um eine Gegenposition zum ehemaligen Fußballfunktionär Andreas Rettig einzunehmen, der derzeit als Anti-WM-Aktivist durch die Diskussionsrunden in Deutschland tourt. Hoeneß bezeichnete Rettig damals als »König der Scheinheiligen«, weil Deutschland Gas aus Katar haben möchte und weil viele Menschen nach dem überstürzten Rückzug der Bundeswehr aus Afghanistan nur mit Hilfe der Katarer ausgeflogen werden konnten. In Hoeneß’ Augen führen »die WM und auch das Engagement des FC Bayern und andere Sportaktivitäten in der Golfregion dazu, dass die Arbeitsbedingungen für die Arbeiter dort besser werden und nicht schlechter«.

Auch Amnesty International hält fest: »Die Reform des katarischen Arbeitssystems hat seit 2017 zu einigen merklichen Verbesserungen für die zwei Millionen im Land arbeitenden Arbeitsmigrant*innen geführt.« Nicht zuletzt der internationale Druck, der vor dem Hintergrund der Fußball-WM immer größer geworden war, hat dazu beigetragen. Und die Katarer behaupten, dass die Gesellschaft sich auch an anderen Stellen öffnen werde, man brauche eben nur mehr Zeit, so wie auch in Europas Demokratien oft viel Zeit verging, bis beispielsweise Frauen überall wählen durften. Und Mitglieder der LGBTIQ-Community werden immer noch oft diskriminiert.

Rettig und Hoeneß trugen an jenem Vormittag ein lebendiges Wortgefecht aus, wie es selten geworden ist in einer Öffentlichkeit, in der vielen Leuten der Mut fehlt, auch mal extremere Positionen einzunehmen. Hoeneß wurde alsdann als »Botschafter« von Katar bezeichnet, weil der FC Bayern einen lukrativen Sponsorenvertrag mit Qatar Airways hat, völlig falsch waren seine Argumente dennoch nicht. Rettig wies seinerseits mit guten Argumenten auf die frappierenden Missstände in Katar hin. Die Suche nach einem moralischen Standpunkt ist in jedem Fall komplizierter als auf den ersten Blick erkennbar.

Wissenschaftler wie Sebastian Sons vom Center for Applied Research in Partnership with the Orient e.V. weisen schon lange darauf hin, dass die Katarer mit ihrer WM nicht zuletzt Ziele verfolgen, die jeder westliche Demokrat erst einmal verstehen müsse. Es gehe »ums Überleben«, sagt der Islamwissenschaftler, der gerade ein Buch mit dem Titel »Menschenrechte sind nicht käuflich« vorgelegt hat. In den vergangenen Monaten hat Sons in zahlreichen Vorträgen und Interviews versucht, der simplen Annahme entgegenzuwirken, dass Katar und die dortige Gesellschaft im Kern boshaft seien, während der vermeintlich zivilisierte Westen moralisch überlegen wäre.

Bevor dieses winzige Land, dem das größte Erdgasfeld des Planeten gehört, unter anderem durch den Sport zu einem global bekannten und fest in die Weltwirtschaft eingebundenen Staat wurde, habe für Katar die Gefahr bestanden, einfach überfallen und vereinnahmt zu werden. 2017 gab es die jüngste Golfkrise, als einige Nachbarn wie die Saudis und die Vereinigten Arabischen Emirate das Land mit einer Blockade schwächen wollten, was letztlich nicht gelang. Bei dieser WM gehe es also genau wie bei den Beteiligungen Katars an westlichen Unternehmen wie VW oder Siemens darum, eine »Schutzgarantie vor externen Bedrohungen« zu erwirken und »das Land als Marke zu stärken«, sagt Sons. Zusammen mit den massiven Investitionen in Kultur, Bildung und Wissenschaft ist die Präsenz im Sport Teil einer »Soft-Power-Strategie«, die eine tragende Säule der nationalen Sicherheit darstellt.

Ein Grund für den unwürdigen Umgang mit Frauen, Arbeitsmigrant*innen, mit Lesben, Schwulen und trans Menschen sind solche Schutzmaßnahmen aber keinesfalls. An dieser Stelle ist dann offenkundig doch die konservativ-islamische Gesellschaftsordnung dominierend, die in den verstörenden Aussagen des katarischen WM-Botschafters Khalid Salman sichtbar wurde, als er in einer ZDF-Dokumentation kürzlich sagte, Homosexualität sei ein »geistiger Schaden«. Viel zu wenig beachtet wird in der Diskussion um Arbeitsmigranten außerdem die Ausbeutung von zumeist weiblichen Hausangestellten, die oftmals bis zu 15 Stunden am Tag arbeiten müssen und nicht selten sexuellen Übergriffen ausgesetzt sind. Und das in einem Land, in dem Frauen nach einer Vergewaltigung auch noch wegen »außerehelichen Geschlechtsverkehrs« vor Gericht landen können. Dass in Katar offenbar keine Bereitschaft vorhanden ist, solche Zustände ernsthaft zu hinterfragen, bleibt verstörend.

Wobei auch hier ein differenzierter Blick lohnenswert ist. Sollte die katarische Herrscherfamilie ernsthaft beginnen, das Kafala-System abzuschaffen, das die Arbeiterinnen und Arbeiter entrechtet, würde sie ziemlich schnell selbst entmachtet werden, glaubt Sons. Weil mächtige mafiöse Organisationen große Geldmengen mit der Anwerbung, der Vermittlung und der Kontrolle von Arbeitsmigranten verdienen.

An dieser Stelle könnten womöglich die konsumfreudigen europäischen Nationen Einfluss nehmen, indem ein wirksames Lieferkettengesetz eingeführt wird. Die schlechten Löhne in den armen Ländern, wo Fußbälle und Kleidungsstücke für die westlichen Märkte hergestellt werden, tragen nämlich dazu bei, dass Menschen von dort aus lieber für einen Mindestlohn von 230 Euro pro Monat nach Katar gehen, statt im eigenen Land weiterzuarbeiten. Doch immer dann, wenn wirtschaftliche Interessen berührt werden, verstummen die westlichen Rufe nach Menschenrechten sehr schnell, beklagt nicht nur Sons.

Der Vorwurf, Maßstäbe einer eurozentristischen Doppelmoral anzulegen, den die Katarer ihren Kritikern machen, ist daher nicht ohne Substanz. »Auf der einen Seite wird die deutsche Bevölkerung durch Regierungspolitiker falsch informiert, auf der anderen hat diese Regierung kein Problem mit uns, wenn es um Energiepartnerschaften geht oder um Investitionen«, sagt Außenminister Mohammed bin Abdulrahman Al Thani in einem »F.A.Z«-Interview. Die europäische Perspektive auf Katar sei mitunter »sehr arrogant und sehr rassistisch.«

Unter den Unternehmen, die Wanderarbeiter im Mittleren Osten ausbeuten, sind auch europäische Firmen. Auch der FC Bayern nimmt gerne das Geld von Qatar Airways, und bis auf den FC St. Pauli hat sich noch kein deutscher Erst- oder Zweitligist ernsthaft darum bemüht, dafür zu sorgen, dass die Trikots, in denen ihre Mannschaften spielten, wirklich nachhaltig und fair produziert werden. Die Hamburger mussten dazu eine eigene Firma gründen, weil nach einer gründlichen Prüfung keiner der gängigen Hersteller mehr infrage kam. Insofern bietet diese WM nicht nur Anlass, die bedrückenden Umstände in Katar zu hinterfragen, sondern auch das eigene Verhalten, das wohl nur vor dem Hintergrund des so kritikwürdigen Wüstenturniers moralisch besser aussieht, als es in Wahrheit ist.

Lesen Sie alle unsere Beiträge zur Fußball-WM in Katar unter: dasnd.de/katar

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