Rechte Gewalt braucht keine Nazis

Auch in Schleswig-Holstein sind rassistische und antisemitische Übergriffe ein Alltagsphänomen

  • Robert D. Meyer
  • Lesedauer: 4 Min.

Neumünster vergangenes Wochenende: Zwei Dutzend Nazis treffen sich am Samstag in der Stadt im Herzen Schleswig-Holsteins. Die NPD hat zum Aufmarsch gerufen, doch schon die Anmeldung bei der Versammlungsbehörde macht klar, dass selbst die neonazistische Kleinstpartei nicht mit großem Zulauf rechnet. Bis zu 100 Teilnehmer*innen könnten kommen, am Ende zählen antifaschistische Gruppen etwa 22 Nazis, die von zehnmal so vielen Gegendemonstrant*innen begleitet nur wenige Meter laufen konnten und ansonsten vor allem in der Gegend herumstanden.

Das Beispiel in Neumünster illustriert, dass die organisierte Naziszene in Schleswig-Holstein eine geringe Rolle spielt. Seit Jahren finden keine großen Aufmärsche mehr statt. Selbst symbolische Provokationen scheitern oftmals, wie zuletzt im Sommer, als der Neonazi Christian Worch die Aufmerksamkeit rund um Sylt nutzen wollte und eine Demonstration ankündigte, zu der es am Ende nicht kam. Hat der Nordwesten kein Problem mit rechts?

Der Schein trügt. »Es muss niemand organisierter Neonazi sein, um eine Tat zu begehen«, macht Felix Fischer vom Zentrum für Betroffene rechter Angriffe (Zebra) in Schleswig-Holstein gegenüber nd.derTag klar. Der Verein betreut und berät Opfer rassistischer, antisemitischer und anderer rechtsmotivierter Taten, leistet Bildungsarbeit und erstellt seit 2018 ein jährliches Monitoring zu rechten Gewalttaten im nordwestlichsten Bundesland. Die jüngste Statistik liegt für 2021 vor. Im Vorjahr registrierte Zebra 77 rechte Gewalttaten mit insgesamt 148 betroffenen Menschen, darunter 31 Kinder und Jugendliche. »Es reichen auch einzelne Aspekte einer menschenverachtenden Ideologie wie Rassismus oder Antisemitismus, damit sich Menschen berufen fühlen, andere anzugreifen«, so Fischer, der seit zwei Jahren als Berater für Zebra arbeitet.

Er weiß, dass die Zahlen nicht die volle Realität abbilden. »Das ist nur die Spitze des Eisbergs. Wir gehen von einem deutlich größeren Dunkelfeld aus.« Was Fischer beunruhigt: »Seit Beginn unserer Erhebung hat sich die Zahl rechter Gewalttaten in Schleswig-Holstein auf einem relativ hohen Niveau stabilisiert.« Vergangenes Jahr wurde zudem aus jedem Landkreis mindestens ein Fall von rechter Gewalt gemeldet, wobei sich die meisten registrierten Taten in Kiel (15), Lübeck (10) und Neumünster (8) ereigneten. Letztgenannte Stadt wird immer wieder genannt, wenn es um einen Rückzugsort für Neonazis geht. Die NPD sitzt mit zwei Vertretern in der Ratsversammlung, einer von beiden ist Landeschef Mark Proch, der vergangenes Jahr erfolglos als Oberbürgermeister kandidierte. In der Stadt gab und gibt es zudem mehrere Treffpunkte der rechten Szene.

Fischer erklärt, dass Zebra bei seiner Erfassung rechter Gewalttaten Kontinuitäten feststelle. »Weit über 50 Prozent der Angriffe, die wir im Monitoring aufnehmen, sind rassistisch motiviert. Die zweite große Gruppe an Betroffenen sind politische Gegner*innen, seien es Antifas oder Lokalpolitiker*innen.« Ein besonders schwerer Fall, auf dem Zebra seinerzeit besonders hinwies, ereignete sich im Oktober 2020. Am Rande einer AfD-Veranstaltung in Henstedt-Ulzburg fuhr Melvin S. mit seinem Pick-up in eine Gruppe Gegendemonstrant*innen, vier Personen wurden verletzt. Zwar erhob die Staatsanwaltschaft Kiel mehr als ein Jahr später Anklage wegen versuchten Totschlags, doch bis heute steht der Prozessbeginn aus. Zum zweiten Jahrestag vor wenigen Wochen sprach Martina Renner, Innenexpertin der Linksfraktion im Bundestag, von einem »Akt rechten Terrors«, der sich in Henstedt-Ulzburg ereignet habe.

Im Vergleich zu anderen Bundesländern gab es in Schleswig-Holstein erst spät ein Beratungsangebot für Opfer rechter Gewalt. Während es zum Beispiel in Sachsen-Anhalt seit 2001 und in Nordrhein-Westfalen seit 2012 vergleichbare Angebote gibt, ist Zebra jünger. »Wir sind auf Initiative zivilgesellschaftlicher Einzelpersonen entstanden, die 2014 im Rahmen einer Veranstaltung der Heinrich-Böll-Stiftung auf die Idee kamen, nach dem Vorbild der Beratungsstellen von Betroffenen rechter Gewalt in Ostdeutschland so etwas auch in Schleswig-Holstein zu gründen. Eine Rolle gespielt haben dabei die vielen rechten Angriffe, die es damals in ganz Deutschland gab. Es wurde festgestellt, dass in Schleswig-Holstein eine Leerstelle existiert«, erzählt Fischer.

Auch wenn die Landespolitik durch die Förderung der Beratungsangebote zeigt, dass ihr der Kampf gegen Rechtsextremismus wichtig ist, gibt es nach Ansicht des Zebra-Experten weiterhin Leerstellen, etwa bei der Aufarbeitung der Gewalt in den Neunzigerjahren, die sich bis heute hinziehe. »Das zeigt sich dann beispielsweise daran, dass die Betroffenen und ihre Unterstützer*innen einen Untersuchungsausschuss zum Brandanschlag in der Lübecker Hafenstraße gefordert hatten und dem bis heute nicht nachgekommen wurde«, so Fischer. Lübeck hatte sich keine dreieinhalb Jahre nach dem rassistischen Brandanschlag mit drei Toten in Mölln ereignet. Anders als dieser Fall wurde das Verbrechen mit zehn toten und 38 verletzten Migrant*innen nie aufgeklärt. Die Ermittlungen damals pflasterten einen Weg aus Schlampereien, nicht verfolgten Spuren und falschen Verdächtigungen. Auch die Hinterbliebenen des Anschlags von Mölln weisen immer wieder auf Leerstellen hin.

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