Eine alte Stadt kürzt bei der Jugend

Sparpläne des Chemnitzer Rathauses bei Freizeit- und Beratungsangeboten stoßen auf starken Protest

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Einwohnerschaft der sächsischen Industriestadt Chemnitz zählt zu den ältesten im Land. 69 800 Chemnitzer, mehr als ein Viertel der Bewohner, sind Rentner. Der Anteil der Über-80-Jährigen stieg seit 2007 von sechs auf fast zehn Prozent. 17 Jahre oder jünger sind dagegen nur 37 200 Einwohner. Besserung ist nach Angaben des Rathauses nicht in Sicht. Weil die Zahl der Menschen im »Familiengründungsalter« immer kleiner werde, sinke auch die Zahl der Geburten, heißt es.

Auf diese wenig erbaulichen Aussichten gäbe es unterschiedliche Antworten. Eine wäre, Chemnitz besonders attraktiv für junge Familien, Kinder und Jugendliche zu machen, um sie in die Stadt zu locken oder dort zu halten. Doch im Rathaus wird derzeit ein anderer Kurs praktiziert. Vor einigen Tagen wurde bekannt, dass die Verwaltung 1,5 Million Euro bei Freizeit- und Beratungsangeboten sparen will – und zwar beginnend mit dem Jahreswechsel. In E-Mails wurden die Träger von zwölf Projekten aufgefordert, das Nötige zu veranlassen, um in fünf Wochen »das Angebot abzuwickeln«. Das Ansinnen und die Art, wie es kommuniziert wird, sorgen für Fassungslosigkeit. Das Kulturbündnis »Hand in Hand« sieht in den beabsichtigten Kürzungen einen Beleg dafür, dass eine »überalterte Verwaltung an der Stimme junger Menschen vorbei verwaltet«. Das sei besonders fatal, weil Chemnitz im Jahr 2025 europäische Kulturhauptstadt werde und sich im Zuge dessen eigentlich »transformieren und modernisieren« wolle. Die Erklärung trägt die Überschrift »Chemnitz letzte Generation. Wie das Dezernat 5 unsere Zukunft verhindert«.

Die Pläne seiner Chefin, der Sozialbürgermeisterin Dagmar Ruscheinsky, sehen Einsparungen unter anderem in der Jugend- und Jugendsozialarbeit vor. So sollen Kinder- und Jugendzentren in acht Stadtteilen geschlossen werden, in denen es eigentlich besonders hohen Beratungsbedarf gibt. Familientreffs sollen abgewickelt werden, ebenso medienpädagogische Angebote. Auch Stellen für Integrationshelfer in Schulen und Horten stehen zur Disposition. Gestrichen werden sollen zudem Zuschüsse für etablierte Einrichtungen wie das soziokulturelle Zentrum »Kraftwerk«, das auf eine 30-jährige Geschichte zurückblickt, zunächst das ehemalige Klubhaus »Fritz Heckert« bespielte und inzwischen in einem neuen Domizil auf dem Kaßberg zum gefragten Anlaufpunkt für junge Leute und Kulturinteressierte geworden ist. Würden die Pläne des Rathauses umgesetzt, sagte Geschäftsführerin Cynthia Kempe-Schönfeld der »Freien Presse«, dann »müssen wir unser Haus ganz schließen«.

Ausgerechnet bei Projekten für Kinder und Jugendliche den Rotstift anzusetzen, halten Kritiker auch deswegen für fatal, weil diese unter der Pandemie besonders gelitten haben, wie der Deutsche Ethikrat erst dieser Tage feststellte. In Chemnitz sollten die »Corona-Verlierer« nun »eine doppelte Zeche zahlen«, schimpft Michael Richter, Geschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes in Sachsen. Das Chemnitzer Netzwerk für Kultur und Jugendarbeit, ein Zusammenschluss von gut 70 Vereinen, Verbänden und Initiativen, betont, dass die Leistungen in dem Bereich angesichts von Pandemie, Ukraine-Krieg und steigenden Lebenshaltungskosten »eher ausgebaut statt zurückgefahren werden müssten«. Auch Linke-Stadträtin Sandra Zabel sieht nach drei Pandemiejahren einen erhöhten Bedarf an Beratungen für Kinder, Jugendliche und Eltern. Sie warnt, wenn Präventionsangebote in der Jugendhilfe jetzt reduziert würden, »bekommen wir erfahrungsgemäß in zwei bis drei Jahren die Rechnung«, weil anderswo höhere Ausgaben entstünden.

Zabel und ihre Kollegen im Kommunalparlament wurden von der Streichliste kalt erwischt und sind entsprechend sauer. Die Grünen-Abgeordnete Christin Furtenbacher, die auch Landessprecherin ihrer Partei ist, nennt die Kürzungspläne »unverantwortlich« und findet es »inakzeptabel«, dass diese öffentlich wurden, bevor sich der Stadtrat überhaupt mit dem Haushalt befasste. Dieser müsse »auf den Tisch, ehe über die Streichungspläne befunden werden kann«. Der Etat dürfte im Rat erst im ersten Quartal 2023 beschlossen werden. Mit Blick auf die Kürzungsliste deutet sich fraktionsübergreifender Widerstand an, wobei die Akzente sehr unterschiedlich gesetzt werden. Die AfD etwa will die Jugendarbeit erhalten, indem das Budget der bei ihr sehr unbeliebten städtischen Theater und der Chemnitzer Kunstsammlungen geschröpft wird. Dort seien, erklärt sie, »definitiv Kapazitäten vorhanden für eine Umschichtung«.

Entscheidende Weichen für die Kürzungspläne soll allerdings der Jugendhilfeausschuss bereits am 6. Dezember stellen. Am Rand seiner Sitzung wird es Proteste geben: Unter der Überschrift »Bezahlt doch eure Krise selber« ist eine Kundgebung vor dem Rathaus angekündigt. Eine Online-Petition für den Erhalt und die Weiterfinanzierung der Chemnitzer Kinder- und Familienzentren hat derweil bereits fast 6000 Unterstützer gefunden. Ähnlich gravierende Einschnitte wie in Chemnitz sind bisher aus anderen Städten im Freistaat nicht bekannt geworden. Richter vom Paritätischen Wohlfahrtsverband schließt aber nicht aus, dass andere nachziehen. Im Kurznachrichtendienst Twitter fragte er dieser Tage: »Macht Chemnitz den Auftakt des Kürzungsreigens in Sachsen?«

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