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Südamerika feiert in Katar
Selbst wenn ihre Teams nicht siegen, wollen die Fans bei der WM lieber Feste feiern als Kritik üben
Mit einem neu erbauten Stadion verhält es sich wie mit einem gerade fertiggestellten Haus: Ob wirklich alles den Belastungen standhält, zeigt erst der Alltagsbetrieb. Insofern muss es für die Konstrukteure des »974« getauften Stadions am Hafen von Doha ein beruhigendes Gefühl gewesen sein, dass in der Nacht zu Donnerstag zwar nicht alles ruhig, aber heil blieb. Eine Herde Büffel in amerikanischer Prärie hätte kein größeres Beben auf den übereinander gestapelten Containern auslösen können als die Menschenmenge, die Argentinien beim Einzug ins WM-Achtelfinale singend, tanzend und stampfend begleitete.
Als Alexis Mac Allister und Julián Álvarez die krasse Überlegenheit des zweifachen Weltmeisters gegen Polen mit ihren Toren zum 2:0 krönten, wackelte der Boden in den provisorischen Bauten drumherum. Robert Lewandowski und seine Elf waren vom Weltstar Lionel Messi und seinem Ensemble schlicht überrannt worden. Den Luxus des verschossenen Elfmeters durch Messi – nach fragwürdiger Intervention des Videoschiedsrichters übrigens – lächelten alle weg, erst recht der 35-Jährige, der hinterher bester Laune war. »Wir haben wieder angefangen, das zu tun, was wir so lange getan haben, was wir aber seit Beginn der WM aus verschiedenen Gründen nicht umsetzen konnten«, sagte der Superstar.
Die Auftaktpleite gegen Saudi-Arabien war gestern, am Samstag wartet das Achtelfinale gegen Australien – am Sonntagnachmittag im Ahmad Bin Ali Stadium in Ar-Rayyan. Woran es nicht mangelt, ist die Unterstützung von den Rängen, die sich direkt auf den Rasen überträgt, und das Singen und Stampfen, das an Spieltagen mit argentinischer Beteiligung von frühmorgens bis spätabends einem Belastungstest des gesamten Metronetzes gleichkommt.
Wie schon bei der WM 2018 in Russland prägen die Südamerikaner auch in Katar das Erscheinungsbild. Ihnen ist kein Weg zu einer WM zu weit, kein Trip zu teuer. Unter den zehn Ländern mit den meisten Ticket-Bestellungen befanden sich wieder Mexiko, Argentinien und Brasilien. Gefühlt fast die Hälfte der mehr als 88 000 Zuschauer im Lusail Stadium trugen beim ersten Spiel von Rekordweltmeister Brasilien gegen Serbien kanariengelbe Trikots, am Tag danach bei Argentinien gegen Mexiko dominierten dann die Jerseys mit den drei hellblauen Längsstreifen, Erkennungszeichen der Albiceleste. Es ist allerdings ein Irrglaube, dass alle diese Unterstützer aus Südamerika kommen.
Das erzählt Sheikh Ferdous am Millennium Plaza, ein nettes Public-Viewing-Areal in Al-Sadd. Er stand dort gegen Mitternacht in seinem Argentinien-Trikot an einem Brunnen, trällerte Lieder und hielt seinen Schal. Mit Argentinien, erklärte der in Bangladesch geborene, aber in Katar seit Jahren arbeitende Mann, verbinde ihn seit seiner Kindheit die Liebe und Bewunderung für Diego Maradona – und heute verehre er Lionel Messi. Man müsse sich mal umhören bei anderen Gastarbeitern aus Nepal, Pakistan oder seiner Heimat: »Ganz viele unterstützen Argentinien oder Brasilien.« Das würde den riesigen Support vor Ort erklären.
Fast 100 000 Besucher sind an Spieltagen mit Brasilien und Argentinien verteilt jeweils zum Fan-Festival in den Al-Bidda Park geströmt. Das weitgehend durchgesetzte Alkoholverbot scheint gar nicht mehr groß zu stören. Die Stadien füllen sich gut ohne Bierverkauf. Von den mehr als drei Millionen verkauften WM-Tickets gingen die meisten zwar an Staatsbürger von Katar, der USA und Saudi-Arabiens, aber die Südamerikaner machen die Stimmung. Motto: Wenn die WM jetzt hier stattfindet, machen wir das Beste daraus. Die Gäste aus den Schwellenländern haben eine Grundhaltung mitgebracht, die Oscar Lopez aus Ecuador in einem Gespräch mit »nd« so beschreibt: Er verschließe nicht den Augen vor der Kehrseite, habe viel über die Ausbeutung der Arbeitsmigranten gelesen, aber er wolle das hier nicht ansprechen, denn: »In Südamerika haben viele Menschen ihre eigenen Probleme mit der Regierung, mit der Korruption, mit der Zerrissenheit. Es steht uns einfach nicht zu, den Gastgeber zu belehren.« Er schätzt, dass mindestens 20 000 Landsleute etwa beim zweiten Gruppenspiel gegen die Niederlande gewesen seien.
Wie wichtig dem Land mit seinen knapp 18 Millionen Einwohnern das Spiel war, zeigte die Tatsache, dass Schulen und Universitäten vergangenen Freitag geschlossen blieben. Auch Schüler, Studenten und Lehrer sollten »zum Zugehörigkeitsgefühl, zur nationalen Einheit und zum ecuadorianischen Stolz beitragen«, hieß es. Während in Deutschland Millionen Menschen nicht einschalten, werden anderswo die Bürger angehalten, Fußball zu schauen.
Der in England arbeitende Fan aus Ecuador findet, dass eine WM viel für die Verständigung bringe. Die Komprimierung der WM auf eine Stadt und deren Umgebung ermögliche viele Kontakte. Der Trip in die Wüste, sagte er vor der Abreise, habe sich auf jeden Fall gelohnt. Zurück in London wurde auch das letzte Gruppenspiel gegen Senegal geschaut, wobei er aus der Ferne erleben musste, wie sich seine Lieblinge von der südamerikanischen Party in Katar vorzeitig verabschiedeten.
Lesen Sie alle unsere Beiträge zur Fußball-WM in Katar unter: dasnd.de/katar
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