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Die Zeit des Tiefstapelns ist vorbei

Japan hat in der Todesgruppe mit Deutschland und Spanien den Sieg eingefahren. Gegen Kroatien soll es nun ins Viertelfinale gehen

  • Felix Lill, Tokio
  • Lesedauer: 5 Min.
Party im Morgengrauen: Ein paar Fans hatten in Tokio den Sieg gegen Spanien mitverfolgt.
Party im Morgengrauen: Ein paar Fans hatten in Tokio den Sieg gegen Spanien mitverfolgt.

Am Morgen nach dem großen Sieg drehte sich die Welt schon wieder im normalen Rhythmus weiter. Zur Rushhour in der Früh funktionierte Tokio wie die geölte Maschine, die diese Riesenmetropole an jedem Tag ist: Menschen quetschten sich in volle Züge, blickten stumm auf ihre Smartphones oder Taschenbücher, um in der beklemmenden Enge niemanden zu stören. Ein Bildschirm, der die nächsten Haltestellen ankündigt, übertrug auch Nachrichtenschlagzeilen in den Zug. Aber Gejubel war nicht zu hören.

Die Abgeklärtheit, mit der das Land das für große Teile der Welt überraschende Weiterkommen der japanischen Nationalmannschaft bei der Fußball-WM quittierte, war beachtlich. Womöglich lag es daran, dass das letzte und entscheidende Gruppenspiel gegen Spanien um vier Uhr morgens Ortszeit begonnen hatte. Der erste Sieg im ersten Gruppenspiel gegen Deutschland war um zehn Uhr abends japanischer Zeit angepfiffen worden – entsprechend voll waren die Kneipen gewesen und entsprechend lauter der Jubel auf den Straßen nach dem Abpfiff.

Aber es gab wohl noch einen anderen Grund für die Nüchternheit am Morgen nach dem Triumph, und der war nach Abpfiff im TV-Sender Abema indirekt zu vernehmen. Grinsend sagte der Kommentator: »Unser Trainer hat doch gesagt, er will für neue Aussichten des japanischen Fußballs sorgen. Das wäre jetzt geschafft! Vielleicht kommen wir ja sogar noch unter die letzten vier!« Mit anderen Worten: Das Weiterkommen war in Japan quasi eingeplant. Tatsächlich hatte Trainer Hajime Moriyasu als offizielles Turnierziel das Viertelfinale ausgegeben. Jetzt denkt man schon weiter.

Die Zeit des Tiefstapelns, das im ostasiatischen Land eigentlich als alte Tugend gilt, ist im japanischen Fußball jedenfalls zu Ende. Ein Viertelfinaleinzug wäre das beste Abschneiden der nationalen WM-Geschichte. Aber verblüffend ist diese Anspruchshaltung kaum. Tatsächlich dürfte Japan denn auch über den stärksten Kader seiner Geschichte verfügen. In früheren Jahren hatte das Land stets eine Handvoll Spieler, die international Aufsehen erregten. Heute stehen oder standen fast alle bei erfolgreichen europäischen Klubs unter Vertrag, viele von ihnen als Leistungsträger.

Allein in der Bundesliga sind das unter anderem Ritsu Dōan vom SC Freiburg, Daichi Kamada von Eintracht Frankfurt und Wataru Endō vom VfB Stuttgart, außerdem die Verteidiger Maya Yoshida von Schalke 04 und Kō Itakura von Borussia Mönchengladbach. Hinzu kommen die Offensivkräfte Takumi Minamino vom AS Monaco aus der französischen Liga, Takefusa Kubo von Real Sociedad in Spanien und Takehiro Tomiyasu vom englischen Spitzenreiter FC Arsenal London. Die Liste ließe sich fortführen.

Im Gegensatz zu früheren Jahrgängen fallen japanische Spieler nicht mehr vor allem durch solide Technik und Fleiß auf, sondern mittlerweile auch durch körperliche Härte und Zweikampfbereitschaft. Den Fairplaypokal, der im japanischen Fußballmuseum in Tokio in mehrfacher Ausführung von diversen Turnieren mit Stolz präsentiert wird, dürfte Japan diesmal nicht gewinnen. In der Gruppenphase hat die Mannschaft schon sechs gelbe Karten erhalten – gemeinsam mit Costa Rica die meisten in Gruppe E.

Dafür aber fuhr die Mannschaft trotz eines schwachen Spiels gegen Costa Rica den Gruppensieg ein, mit Siegen gegen zwei Truppen, die vorher zumindest zum erweiterten Favoritenkreis auf den WM-Titel gehört hatten. Denn zur neuen Härte Japans kommen das gemeinsame Pressen, Umschalten und Verteidigen, was auf hoher Kompaktheit und einem starken Kollektiv gründet. Gegen Deutschland wie auch gegen Spanien drehte Japan durch intensive Druckphasen binnen weniger Minuten einen Rückstand in eine Führung.

Das Konzept des Kollektivs hat Trainer Moriyasu dabei noch etwas weiter gefasst: Kurz vorm WM-Start wandte er sich noch mit diesen Worten an die Öffentlichkeit: »Wir brauchen unbedingt die Unterstützung der Fans und des ganzen Landes. Ich bitte Sie, uns mit aller Kraft anzufeuern, mit uns zu kämpfen.« Und da diese anderswo kontrovers diskutierte Fußball-WM in Japan kaum politisch gedacht wird, sondern praktisch ausschließlich sportlich, machen die Menschen mit.

Dass nur diejenigen in Tokio am Freitagmorgen in Feierlaune waren, die die Nacht durchgemacht hatten, bedeutet nicht, dass die Nationalmannschaft daheim nicht eng verfolgt wird. Täglich berichten TV-Sender aus dem Camp in Katar, Zeitungen machen mit Jubelgeschichten auf. Direkt nach dem letzten Gruppenspiel, titelte etwa die Tageszeitung »Asahi Shimbun«: »Das ist der Beginn einer neuen Geschichte.« Das Sensationsblatt »Nikkan Sports« rief: »Jetzt schon danke!«

So sahen es auch die nationalen Vertreter im Stadion. »An euch alle: Bravo!«, jubelte der 36-jährige Routinier Yūto Nagatomo. Ritsu Dōan, der zur Halbzeit ins Spiel kam und an beiden Toren beteiligt war, rief den Menschen in Japan zu: »Guten Morgen. Danke fürs Einschalten!« Und Kapitän Maya Yoshida erklärte mit offensichtlichem Stolz: »International hat fast niemand auf uns gesetzt. Aber es waren auch so viele Menschen aus Japan hier im Stadion. Das macht uns stärker.« Im Achtelfinale am Montag geht es gegen Kroatien. Ein Sieg ist eingeplant. Man will schließlich ins Viertelfinale. Mindestens.

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