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  • Sammelband »Frenemies«

Das No-Go suchen

Ein neuer Sammelband will dem schwierigen Verhältnis von Antisemitismus- und Rassismuskritik auf den Grund gehen – und entfachte selbst einen Eklat

  • Nora Kühnert
  • Lesedauer: 7 Min.
Szene im geteilten Jerusalem: Israel polarisiert im deutschen Rassismus- und Antisemitismusdiskurs.
Szene im geteilten Jerusalem: Israel polarisiert im deutschen Rassismus- und Antisemitismusdiskurs.

Das englische Portmanteauwort »Frenemies«, zusammengesetzt aus »friends« (Freundinnen) und »enemies« (Feindinnen), ist zweideutig. Zum einen kann es falsche Freundinnen bezeichnen, zum anderen Feindinnen, zu denen man sich freundlich verhalten muss. Man könnte den Begriff auch so verstehen, dass Feindinnen zu einem bestimmten Zweck eine Allianz bilden.

Meron Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main, die Politologin Saba-Nur Cheema und die Antisemitismusforscherin Sina Arnold haben sich dieses Begriffs bedient, um ihren kürzlich erschienenen Sammelband zum Spannungsverhältnis von Rassismus- und Antisemitismuskritik zu betiteln. »Frenemies. Antisemitismus, Rassismus und ihre Kritiker*innen« versammelt 48 kurze Texte von Aktivistinnen, Wissenschaftlerinnen und Pädagoginnen mit teilweise sehr unterschiedlichen politischen und wissenschaftlichen Haltungen. Jenseits von »Polarisierung« und »purem Pluralismus« wollen die Herausgeberinnen möglichst kontroverse Standpunkte zusammenbringen, um »nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner wie auch den No-Gos zu suchen« und eine »längst überfällige Diskussion anzustoßen«. Zudem sollen komplexe Sachverhalte möglichst niedrigschwellig erklärt werden.

Doch warum gibt es überhaupt so große Probleme zwischen Rassismus- und Antisemitismuskritikerinnen? Im Grunde sind ihre Anliegen doch ähnlich und ergänzen sich, könnte man meinen. Schließlich engagieren sich alle gegen gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Die Einleitung des Bands gibt erste Anhaltspunkte: Cancel Culture, Filterblasen und rhetorische Verrohung in den sozialen Medien sorgten für einen rauen Ton in den Debatten, so die Herausgeberinnen. Dazu komme, dass die deutsche Gesellschaft zunehmend realisiere, dass sie durch Migration gekennzeichnet sei. Dass dadurch nun zuvor marginalisierte Stimmen sichtbar werden, sei eine positive Entwicklung. Gleichzeitig nähme durch die Pluralisierung und Individualisierung politischer Debatten aber auch die Tendenz zu, dass subjektiven Perspektiven eine absolute Deutungshoheit zugesprochen und eine kritische Gesellschaftsanalyse durch sie ersetzt wird.

Um im Sinne einer solchen kritischen Gesellschaftsanalyse für Differenzierungen zu sorgen, zeigt der Politologe Floris Biskamp in seinem »Frenemies«-Beitrag, dass antisemitismuskritische und postkolonial-rassismuskritische Forschungsansätze grundsätzlich verschieden funktionieren: Während erstere in Deutschland auf das psychoanalytisch-marxistische Denken der Frankfurter Schule zurückgehen, das die destruktiven Tendenzen von Subjekten in kapitalistischen Gesellschaften aufzudecken suchte, fokussieren sich letztere in einer Macht-analytischen Tradition auf Dominanzverhältnisse zwischen privilegierten und marginalisierten Gruppen. Das führe zu sich gegenseitig verfestigenden Missverständnissen, so Biskamp.

Der Beitrag der Journalistin Gilda Sahebi wiederum beschäftigt sich im Zusammenhang mit anti-muslimischem Rassismus mit der Behauptung, dass Muslime »die neuen Juden« seien. Dies sei weder richtig noch gewinnbringend – erstens, weil Antisemitismus auch heute, nach der Shoah weiterexistiere, zweitens, weil ein solcher Vergleich zur Relativierung der Behandlung von Jüdinnen und Juden in Nazi-Deutschland beitrage und drittens, weil dadurch qualitative Unterschiede zwischen Antisemitismus und Rassismus unter den Tisch fielen.

Die Frage, ob auch Linke antisemitisch sein könnten, beantworten Sina Arnold und der Journalist Leo Fischer in ihrem Beitrag mit einem klaren Ja. Sie erinnern daran, dass jüdische Aktivistinnen immer wieder darauf verwiesen haben, wie wichtig es für linke soziale Bewegungen ist, den eigenen Antisemitismus zu reflektieren. Während viele Linke frei zugeben würden, dass unsere Gesellschaft sexistisch strukturiert ist oder dass auch aufgeklärte Menschen unbewusst rassistisch sein können, unterbleiben solche Erkenntnisse oft im Hinblick auf Antisemitismus – eine herausragende Aussage des Bandes.

Dass Rassismus- und Antisemitismuskritikerinnen nicht zusammenfinden, liegt jedoch beileibe nicht nur an den sozialen Medien oder den unterschiedlichen theoretischen Perspektiven in der Forschung, wie Floris Biskamp sie beschrieben hat – sondern auch an ganz handfesten inhaltlichen Differenzen. Auch diese werden im Buch thematisiert.

So wollen postkoloniale Ansätze die Shoah zumeist nicht als einzigen Bruch mit der Zivilisation verstanden wissen, sondern als einen Genozid unter vielen. Dem wird im Rahmen des sogenannten »Zweiten Historikerstreits« etwa von Antisemitismusforscherinnen entgegnet, dass eine solche Gleichmachung nicht nur die Erkenntnis über qualitative Besonderheiten der industriellen Massenvernichtung der Juden verunmögliche, sondern auch der Relativierung deutscher Schuld den Weg bereite.

Zudem identifiziert der Band Israel-bezogenen Antisemitismus als Ursprung unüberbrückbarer Differenzen. Dieser fand seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs gerade in Deutschland weite Verbreitung: Vorurteile über Jüdinnen und Juden werden unter dem Deckmantel sogenannter Israel-Kritik formuliert. Schon lange entzünden sich in der deutschen Linken heftige Auseinandersetzungen um dieses Thema. Es ist gegenwärtig untrennbar mit dem Konflikt um die Israel-Boykottkampagne BDS (Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen) verbunden: Sie tritt für eine »Befreiung Palästinas« durch wirtschaftlichen und politischen Druck auf Israel ein. Immer wieder stand sie dafür in der Kritik, dass sie damit auch Hetze gegen Jüdinnen und Juden betreibt und das Existenzrecht des jüdischen Staates infrage stellt. Der Bundestag in Deutschland beschloss im Jahr 2019, dass die BDS-Kampagne antisemitisch ist.

Auch im Entstehungsprozess von »Frenemies« führte das Thema BDS zum Eklat. Kurz vor Drucklegung wurde bekannt, dass die Autoren und Aktivisten Kerem Schamberger und Ramsis Kilani in ihrem Beitrag eine Pro-BDS-Position vertreten würden. Über zehn jüdische und nichtjüdische Autorinnen und Autoren entschieden sich dazu, ihre Beiträge zurückzuziehen. Die Gründe dafür waren laut ihrer auf der Website hagalil.com publizierten Stellungnahme, dass sie BDS für eindeutig antisemitisch halten, dass Schamberger und Kilani islamistischen Terror als Widerstand verharmlost haben und dass ihnen von den Herausgeberinnen bis zur Drucklegung nicht mitgeteilt wurde, dass jene Autoren im selben Band wie sie einen Beitrag veröffentlichen werden. Einige der zurückgenommenen Beiträge sind nun unter dem Titel »Beyond Frenemies« ebenfalls auf hagalil.com nachzulesen.

Die Herausgeberinnen reagierten auf den Rückzug der Beiträge damit, dass sie den Text von Schamberger und Kilani aus dem Sammelband herausnahmen, um die zurückgezogenen Beiträge wiederzugewinnen und das Gesamtprojekt nicht zu gefährden. Daraufhin wurde ihnen von Schamberger und Kilani eine anti-palästinensische Haltung vorgeworfen und behauptet, die Zurückziehenden hätten die Herausgeberinnen unter Druck gesetzt.

Viele der nun im Band verbleibenden Stimmen stehen der BDS-Kampagne vor allem aufgrund ihrer konkreten autoritären Praxis des Boykotts israelischer Kulturschaffender und Wissenschaftlerinnen kritisch gegenüber. So schreibt die Mit-Herausgeberin Saba-Nur Cheema: »Es geht nicht um den bloßen Boykott von Produkten. Bei BDS haben wir es mit einer totalitären Ideologie zu tun, in der Ausschluss nicht ein Instrument, sondern ein inhärenter Grundsatz ist.«

Der Psychologe und Journalist Tom David Uhlig hingegen geht noch weiter, wenn er schreibt: »Zu behaupten, (…) der Boykott Israels wäre nicht per se antisemitisch, lenkt davon ab, dass er es im konkreten Fall der BDS-Kampagne definitiv ist.«

In dem Band sind also schon deutliche Worte gegen BDS zu finden. Gleichzeitig aber positionieren sich die Herausgeberinnen in der Einleitung im Zusammenhang mit dem Eklat gegen Kontaktschuld und Cancel Culture, welche nicht nur aufseiten der BDS-Kampagne, sondern auch unter deren Kritikerinnen zu finden seien. Und wenn Meron Mendel zum Beispiel in Interviews mit dem Deutschlandfunk oder der »FAZ« davon spricht, dass »die beiden extremen Positionen im Buch nicht mehr vertreten« seien, dann klingt es sogar so, als seien sowohl die beiden BDS-Befürworter als auch deren Kritikerinnen bewusst aus dem Band herausgenommen worden, weil sie zwei radikale und identitär geprägte Positionen zum Thema Israel vertreten würden.

Die Herausgeberinnen haben natürlich recht, wenn sie schreiben, dass die öffentliche Debatte um Israel und israelbezogenen Antisemitismus für viele abschreckend ist. Wer nicht tief in der Debatte drinsteckt, lässt es nicht selten gleich wieder bleiben und stellt lieber keine Fragen. Auch scheint die Suche nach einem kleinsten gemeinsamen Nenner angesichts der sich selbst lähmenden Linken alternativlos: Längst sind es nicht mehr nur Neonazis, die linke Veranstaltungen stören und linke Projekte verunmöglichen – sondern auch Linke untereinander. Egal wo man hinschaut, es fliegen die Fetzen.

Der Band hat seine Stärken also da, wo er entsprechend seinem Ziel leicht verständlich differenziert und abwägt. Doch so wichtig es ist, eine nicht vollkommen verfeindete Realität zu erstreiten, in der auch spannungsreiche Positionen nebeneinander stehen können, so nachvollziehbar ist auch, No-Gos im Vorhinein festlegen zu wollen. Schließlich geht es beim Thema Israel für jüdische Menschen um existenzielle Fragen. Das wird auch in der besagten auf hagalil.com veröffentlichten Erklärung derjenigen deutlich, die ihre Beiträge zurückgezogen haben. Weder scheint es hier nur um Kontaktschuld noch um ein identitäres Beharren um seiner selbst willen zu gehen. Hingegen ist für die Autorinnen, die ihre Beiträge zurückgezogen haben, eine Pro-BDS-Position aus inhaltlichen Gründen ein No-Go, weil sie in der BDS-Kampagne eine konkrete Gefahr für jüdisches Leben im Alltag sehen. Und weil sie die Kampagne nicht als Ausdruck einer legitimen Meinung am Rand eines akzeptierten Spektrums begreifen wollen, ist auch aus politisch-strategischer Hinsicht folgerichtig, dass sie nicht mit BDS-Befürworterinnen in einem Sammelband stehen wollten. Eine solche Position sollte nicht im Namen des Pluralismus delegitimiert werden.

Meron Mendel/Saba-Nur Cheema/Sina Arnold (Hg.): Frenemies. Antisemitismus, Rassismus und ihre Kritiker*innen. Verbrecher-Verlag, 350 S., br., 20 €.

https://www.hagalil.com/2022/11/beyond-frenemies

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