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- Fußball-WM in Katar
Auf der anderen Seite der Glitzerwelt
Besuch einer puristischen Fanzone in Doha, in der die Arbeitsmigranten unter sich bleiben
Der Mann mit der Mütze scheint die Blicke in seinem Rücken zu spüren, obwohl er die ganze Zeit auf die große Leinwand vor ihm schaut. Dort läuft das Achtelfinale von Brasilien gegen Südkorea, längst steht es 4:0, und er will keinen Moment verpassen. Trotzdem dreht er sich um. Er fällt ja auch auf, weil er bei für europäische Verhältnisse immer noch sommerlichen Temperaturen gegen Mitternacht eine gestreifte Mütze trägt. Und dazu ein eigenwilliges Messi-Trikot, das ihn von den meisten Männern hier unterscheidet. Er hält aus Überzeugung zu Argentinien, also zum Erzfeind Brasiliens. Vielleicht steht er deshalb so verloren da.
Der junge Mann stellt sich vor: Ahmed, 25 Jahre, aus Pakistan. Er ist einer von rund 1,7 Millionen Arbeitsmigranten, die in Katar alles am Laufen halten. Männer aus Bangladesch, Nepal, Pakistan, Sri Lanka oder Indien, die hier in der „Fan-Zone Industrial Area» fast unter sich sind, weil das Publikum an diesem Ort am Stadtrand von Doha so ganz anders ist als in der Fanzone am Al-Bidda-Park. Dieser Sammelpunkt der viel beschriebenen Gastarbeiter ist der größtmögliche Gegensatz zur Glitzerwelt, die den WM-Touristen mit den pompösen Protzbauten in West Bay oder The Pearl vorgeführt wird.
Ahmed steht hier in einem alten Cricket-Stadion und schaut gebannt auf die Videowand. Dann fällt das Ehrentor für Südkorea und er jubelt kurz. In einem Argentinien-Jersey, das sich erst gar keine Mühe gibt, wie ein Original auszusehen. Die eine Hälfte hellblau, die andere weiß; das richtige Trikot der »Albiceleste« hat drei hellblaue Längsstreifen. Und nicht vorne auf der Brust in Großbuchstaben den Namen von Lionel Messi, den Ahmed seit der Kindheit anhimmelt. Er sagt, er ist glücklich, seit drei Jahren in Katar sein zu können. Er arbeite als Fahrer, das meiste von seinem Gehalt schickt er seiner Ehefrau. Was sagt er zur WM in der Wüste? Daumen hoch! Umgerechnet 500 Euro im Monat, antworten viele hier, verdienen sie ungefähr. Davon fließt das allermeiste Geld zurück an die Familien daheim, die sie fast nie sehen. Macht so ein Leben glücklich? Es liegt nicht nur ein etwas strenger Geruch, sondern auch eine merkwürdige Schwere über Asian Town, wie dieser Stadtteil heißt.
Fürs Brasilien-Spiel kommen in diese Fanzone bei freiem Eintritt so viele Menschen, dass sie gar nicht alle durch die Sicherheitsschleusen gelangen. Das Wachpersonal, viele davon aus Katars einzigem Nachbarland Saudi-Arabien, nimmt sich wichtig; lässt irgendwann niemanden mehr herein, obwohl drinnen noch genug Platz wäre. Aber nicht nur im Stadion steht eine Großbildleinwand, vor der die meisten auf heruntergetrampeltem Gras hocken, sondern auch auf dem umfunktionierten Busparkplatz davor. Die blanken Bordsteine sind hier eine beliebte Fläche, um im Schneidersitz das Spiel anzuschauen. Die meisten ziehen ihre heruntergelaufenen Sandalen aus und setzen sich darauf. Abgesehen von einer Shopping-Mall glitzert und funkelt in der Umgebung wenig bis gar nichts.
Der englische Kommentar aus den Boxen ist laut. Angeregt oder gar aufgeregt unterhalten sich die wenigsten miteinander. Aber was denken sie? Und wie geht es ihnen? Vielleich sagen drei Männer mehr, die leicht als Brasilien-Fans auszumachen sind. Sie tragen alle dieselben bunten Perücken und ein Neymar-Trikot. Makhan reicht sofort die Hand. Er ist 28 Jahre alt und mit zwei Kumpels gekommen. Er arbeitet seit zwei Jahren als Elektriker, und auf Katar will er nichts kommen lassen. »Es ist viel besser als in Sri Lanka«, sagt er. Dann zählt er Plätze auf, die ihm besonders gefallen: Corniche, Al Bidda-Park oder Souq Waqif. Und er sagt: »Qatar is beautiful.« Von ihrer Unterkunft, das ist später beim Trio herauszuhören, würden sie das wohl nicht behaupten, aber das tue jetzt nichts zu Sache. Man freut sich auf die nächsten Spiele. Freitagabend, wenn Neymar wieder spielt. Und dann ein Halbfinale gegen Argentinien, das wäre was – und würde wieder vom Alltag ablenken.
15 000, vielleicht auch 20 000 Menschen beschränken sich auch hier in jeder Hinsicht auf das Nötigste. Es gibt nur ganz wenige Verpflegungsstände. Eine Bretterbude steht verloren in der Ecke. Fanta oder Cola kosten nur fünf Riyal, umgerechnet 1,30 Euro, ein Drittel vom Preis in den meisten Restaurants. Die Verkäufer stehen sich trotzdem die Füße in den Bauch, was sie aber nicht groß stört, weil sie so ungestört mitschauen können. Die Leute hier, sagt einer, drehen jeden Riyal um. Alles, was nicht ausgegeben wird, ist in der Heimat besser angelegt. Die Männer sind die Haupternährer ihrer Familien. Von Frauen, Kindern und weiteren Angehörigen.
Nach Angaben der Weltbank haben die Überweisungen der Gastarbeiter nach Südostasien 2021 insgesamt rund 150 Milliarden Euro betragen. Das meiste kam aus Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten, aber der Anteil Katars wächst. Zum Vergleich: Der deutsche Bundeshaushalt liegt bei etwas über 450 Milliarden Euro. Ein Drittel allein dieser Summe fließt also in Länder, die dadurch ihren Zusammenbruch verhindern.
Aber natürlich wiegt Geld niemals die Toten auf, über die im Vorlauf viel gesprochen worden ist. Während der WM hat das Organisationskomitee fast nebenbei die Zahl genannt, die auf den WM-Baustellen ums Leben gekommen sind. 414 sind es nach offizieller Lesart nun, die zwischen 2014 und 2020 die Schufterei für die Stadien bei mitunter unmenschlichen Bedingungen mit dem Leben bezahlt haben. Es ist eine Schande, wenn an der Unterhaltungsindustrie Fußball dieses Blut klebt. Und wie verlässlich selbst diese Zahlen sind, ist fast so unmöglich herauszufinden, wie die Gefühle der Arbeitsmigranten beim Fußballgucken zu deuten. Hier machen sie keinen unglücklichen Eindruck. Einfache Genügsamkeit scheint vorzuherrschen: dabei sein zu können, auch wenn sich hier niemand ein Ticket für eines der acht WM-Stadien leisten kann.
Wer das Turnier länger begleitet, gewöhnt sich schnell daran, dass Helfer in eigentlich viel zu großer Zahl immer da sind. Sogar beim Public Viewing gibt es einen, der Müll vom sandigen Boden auffegt. Er wird kaum beachtet. Klar wird aber: Es gibt immer was zu tun in Katar.
Am meisten erzählen davon ja Taxifahrer, weil sie gewöhnt sind, mit ausländischen Gästen zu reden. Ihr Job ist auch im Sommer erträglich, weil selbst die älteste Blechkarosse eine funktionierende Klimaanlage besitzt. Gleichwohl: Ihre Schichten dauern oft zehn, elf Stunden am Stück, mit einer Stunde Pause. Dann geht es in die Unterkunft, es wird gegessen, geschlafen – die nächste Schicht. Sechs Tage die Woche. Mahammad, der Passagiere ohne Rechnung für 150 Riyal – also umgerechnet 30 Cola – aus dem Lusail Stadium quer durch Doha hierherfährt, erzählt, dass er neuerdings ohne Zustimmung seines bisherigen Arbeitgebers den Job wechseln und das Land verlassen könne, in dem der Mann aus Bangladesch seit drei Jahren lebt. Er möchte eigentlich nach Deutschland, »das ist leichter geworden«. Immer nur über das breite Asphaltband von Doha zu donnern, ist langweilig.
Die neuen Gesetze, versichert er, seien eine Hilfe. Ob es sie ohne die WM jemals gegeben hätte? Was ist richtig, was falsch? Pauschale Urteile helfen offensichtlich nicht, aber vielleicht hat Katar mittlerweile doch ein paar Spielregeln verwirklicht, die toleranter sind als viele dachten. Eine Partie in einer puristischen Fanzone zu erleben, bringt einen auf der Suche nach der Wahrheit auf jeden Fall weiter als manches Spiel in einem der prächtigen Stadien.
Eigentlich müsste auch Gianni Infantino sich hier mal blicken lassen. Der Fifa-Präsident, als Schauspieler gut geübt, müsste wohl nur sein weißes Hemd gegen eines der nachgemachten Trikots von Messi oder Neymar eintauschen, dann würden ihm wohl auch einige hier auf die Schulter klopfen. Das hat er doch so gerne bei seiner »biggest show on earth«, die in Katar noch bis zum übernächsten Sonntag läuft.
Lesen Sie alle unsere Beiträge zur Fußball-WM in Katar unter: dasnd.de/katar
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