Brutalste Gewalt gegen Menschen

Das »Schwarzbuch Pushbacks« dokumentiert die furchtbaren Zustände an den Außengrenzen der EU

  • Fabian Lambeck, Brüssel
  • Lesedauer: 4 Min.

Allein der Umfang dieses Werks ist erschreckend. Das am Donnerstag in Brüssel veröffentlichte »Schwarzbuch Pushbacks« umfasst vier dicke Bände. Auf mehr als 3600 Seiten kommen hier rund 1600 Betroffene zu Wort und berichten, wie sie geschlagen, getreten, gedemütigt und willkürlich festgehalten wurden, bevor man sie illegal über eine Grenze zurückschob. Diese Vorfälle ereigneten sich nicht etwa in arabischen Folterstaaten, sondern an den Außengrenzen der EU, teilweise auch in den Mitgliedsstaaten selbst. Da wurden Migrant*innen ohne Schwimmwesten von der griechischen Küstenwache in Schlauchboote verfrachtet und auf hoher See ausgesetzt. Kroatische Grenzbeamt*innen schossen zwei zwölfjährigen Geflüchteten ins Gesicht. Immer wieder wurden Menschen, die in der EU Asyl suchten, gewaltsam abgeschoben, bevor sie einen Antrag stellen konnten. Zusammengetragen wurden die Vorfälle vom Border Violence Monitoring Network (BVMN), einem Zusammenschluss von 40 NGOs, die europaweit Geflüchtete unterstützen und gewalttätige Übergriffe dokumentieren.

Es ist bereits die zweite Auflage. Die erste erschien 2020 und umfasste nur zwei Bände. »Das zeigt doch, wie sehr sich die Situation an den Außengrenzen verschlechtert hat«, erklärt Hope Barker vom BVMN-Netzwerk. Ein wichtiger Grund dafür seien die Auswirkungen der Corona-Pandemie. Die so erzwungene Abwesenheit der NGOs habe »zu einem beispiellosen Anstieg brutalster Gewalt gegen Menschen geführt«. Laut Schwarzbuch hätten Grenzschutzbeamt*innen in 13 Ländern damit begonnen, »grausame Abschreckungstaktiken anzuwenden, wie zum Beispiel Schläge, Rasieren der Köpfe, erzwungenes Entkleiden, sexuelle Übergriffe und Hundeangriffe«.

Die EU-Parlamentarierin Conny Ernst (Die Linke) ist sich sicher: »Das sind keine vereinzelten Vorfälle.« Ernst und ihre Fraktion haben die Veröffentlichung des Schwarzbuchs unterstützt. »Die unglaubliche Fülle an Grausamkeiten, die hier dokumentiert sind, lässt keinen Zweifel daran: Diese unmenschliche Behandlung von Geflüchteten hat System«, glaubt Ernst.

Bereits die erste Auflage des Schwarzbuchs vor zwei Jahren hatte weite Kreise gezogen. Kopien landeten auf den Tischen von Minister*innen, Bürgermeister*innen und Parlamentarier*innen. »Doch trotz der erdrückenden Beweise hat es bislang kein Vertragsverletzungsverfahren gegen EU-Staaten gegeben, die illegale Pushbacks durchführen«, unterstreicht Ernst. Es wäre Aufgabe der EU-Kommission, solche Verfahren zu starten. Doch Brüssel blieb bislang untätig, ebenso wie die EU-Grenzschutzagentur Frontex, deren Beamt*innen oft anwesend sind, wenn Pushbacks erfolgen.

Dies zeigt ein Bericht der EU-Antikorruptionsbehörde Olaf aus dem April. Demnach haben führende Frontex-Beamte ein System der Verschleierung aufgebaut, um die Menschenrechtsverletzungen an den europäischen Außengrenzen zu vertuschen. Obwohl die EU-Behörde selbst zahlreiche Fälle dokumentierte, in denen etwa griechische und maltesische Behörden Geflüchtete auf offener See aussetzten, hatte das keine Folgen für Athen und Valletta.

Dass sich die Situation an den Außengrenzen verbessern könnte, glaubt niemand. Im Gegenteil: Auf dem EU-Westbalkan-Gipfel, der in dieser Woche im albanischen Tirana stattfand, war Migration ein großes Thema. Die EU-Vertreter machten deutlich, dass die Beitrittsperspektiven für Staaten wie Bosnien-Herzegowina oder Nordmazedonien von der Bekämpfung der illegalen Migration abhängig seien. So sollen die Staaten des Westbalkans Geflüchtete zurücknehmen, wenn diese über deren Landesgrenze in die EU gelangt sind. Während die Länder des Westbalkans so zu Komplizen des EU-Grenzregimes gemacht werden, belohnt man Kroatien für seine »eklatanten Menschenrechtsverletzungen«, wie die Kroatin Milena Zajović vom Border Violence Monitoring Network kritisiert. Die Adriarepublik erhielt am Donnerstag grünes Licht für den ungehinderten Zugang zum Schengen-Raum. Zajović, die das Schwarzbuch als Herausgeberin verantwortet, verweist auf einen interessanten Aspekt: »Mit mehr als 25 000 Pushbacks pro Jahr ist Kroatien der Champion.« So habe sich das Land für den Schengen-Raum qualifiziert.

Denn gleichzeitig verweigerte man Rumänien und Bulgarien den vollständigen Zugang. Hier blockiert unter anderem Österreich, weil laut Bundeskanzler Karl Nehammer zu viele »unregistrierte Migranten« über beide Länder nach Österreich kämen. Wer also keine systematischen Pushbacks vornimmt, wird auch kein Clubmitglied – so die klare Botschaft an beide Aspiranten.

Conny Ernst verweist auf die Mitverantwortung der Bundesrepublik. »Letztendlich machen Staaten wie Kroatien, Malta oder Griechenland die dreckige Arbeit für Deutschland.« Tatsächlich wollten viele Migrant*innen in die reicheren EU-Staaten, sei es, weil die Perspektiven besser seien oder weil dort bereits Verwandte lebten. »Auch deshalb schweigt Deutschland im EU-Rat und setzt sich nicht dafür ein, dass es eine verbindliche Verteilung von Geflüchteten in der EU gibt«, so Ernsts Fazit.

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