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  • Medizinische Versorgung für Menschen ohne Papiere

Grundrecht verwehrt

Bundesverfassungsgericht nimmt Verfassungsbeschwerde »Ohne Angst zum Arzt« nicht an

  • Ulrike Wagener
  • Lesedauer: 4 Min.
Werden Menschen ohne Papiere krank, können sie Arztkosten privat bezahlen oder einen Versorgungsschein beantragen. Doch damit riskieren sie es, abgeschoben zu werden.
Werden Menschen ohne Papiere krank, können sie Arztkosten privat bezahlen oder einen Versorgungsschein beantragen. Doch damit riskieren sie es, abgeschoben zu werden.

Herr M. lebt seit 30 Jahren in Deutschland und benötigt nach einem Herzinfarkt eine Operation. Weil er keine Papiere hat, müsste er dafür einen Versorgungsschein beim Sozialamt beantragen. Das Amt wiederum müsste ihn dann an die Ausländerbehörde melden, und er würde vermutlich abgeschoben werden. M. kämpft deshalb vor Gericht dafür, dem Sozialamt eine Weitergabe seiner Daten an die Ausländerbehörde zu versagen. Die Verwaltungsgerichte lehnten seinen Eilantrag als unzulässig ab, weil er dem – ebenfalls meldepflichtigen – Gericht seine Daten nicht zur Verfügung stellte. M. hat deshalb zusammen mit der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) und der Organisation Ärzte der Welt Verfassungsbeschwerde eingelegt. Aus Sicht der Kläger*innen ist die Meldepflicht verfassungswidrig. Das Verfassungsgericht hat die Beschwerde jedoch nicht zur Entscheidung angenommen.

»Wer ohne Papiere in Deutschland lebt, hat keinen Zugang zu Gesundheitsversorgung und offenbar auch keinen Rechtsschutz. Das Bundesverfassungsgericht verpasst hier die Chance, klarzustellen, dass alle Menschen in Deutschland einklagbare Rechte haben«, sagt Sarah Lincoln, Verfahrenskoordinatorin der GFF zu »nd«. Begründet hat das Gericht seine Entscheidung in dem Eilverfahren nicht. »Das macht es für uns schwierig zu bewerten«, so die Juristin.

Mögliche Gründe könnten sein, dass das Verfassungsgericht eine Klage unter Pseudonym ebenfalls für unzulässig erachte oder weil der Rechtsschutz in der Hauptsache noch nicht ausgeschöpft sei. Möglich sei auch, dass das Gericht einer Reform durch die Bundesregierung nicht zuvorkommen wolle. Die Regierungsparteien hatten im Koalitionsvertrag angekündigt, die Meldepflichten von Menschen ohne Papiere zu überarbeiten.

Für Lincoln steht jedoch fest: »Der Kläger braucht dringend eine Herz-Operation und kann nicht auf eine Entscheidung im Hauptverfahren warten.« Die GFF und Ärzte der Welt setzen sich seit zwei Jahren gemeinsam mit dem Bündnis GleichBeHandeln für die Abschaffung der Übermittlungspflicht ein. Laut den Organisationen betreffe diese deutschlandweit mehrere Hunderttausend Menschen ohne geregelten Aufenthaltsstatus.

Herr M. war 1993 vor dem Krieg im Kosovo nach Deutschland geflohen. Hier heiratete er eine deutsche Frau und behielt seine Aufenthaltserlaubnis auch nach der Trennung. Im Jahr 2015 versäumte er es, der Ausländerbehörde einen Umzug zu melden, und war für die Behörde nicht auffindbar. Durch diesen Fehler verlor der Bauunternehmer seinen Aufenthaltsstatus unwiderruflich. Für M. ist es keine Option, in den Kosovo zurückzukehren, sein Lebensmittelpunkt ist in Deutschland.

Aktuell ist er nicht arbeitsfähig und auf die Unterstützung seiner Angehörigen angewiesen. Über Jahre ignorierte er seine Symptome aus Angst vor einer Abschiebung. Ende vergangenen Jahres musste er nach einem Herzinfarkt notoperiert werden. Für die Kosten musste er privat aufkommen, ein Fonds der Organisationen unterstützte ihn. Doch er bräuchte eine weitere Operation und Medikamente, die er ohne den Versorgungsschein der Behörde nicht bekommt.

»Jeder Mensch – unabhängig von Herkunft und Aufenthaltsstatus – hat ein Recht auf Gesundheitsversorgung. Die staatliche Meldepflicht hält akut erkrankte Menschen wie unseren Kläger faktisch davon ab, sich medizinisch behandeln zu lassen«, so Lincoln. Der Gesetzgeber habe das Problem zwar erkannt. Doch das Antragsverfahren für einen Versorgungsschein sei so ausgestaltet, dass es gar nicht zur Versorgung komme: »Betroffene vermeiden es, den erforderlichen Behandlungsschein beim Sozialamt zu beantragen. Denn täten sie dies, würden sie verhaftet und abgeschoben. Eine medizinische Versorgung erreichen sie in beiden Fällen nicht«, sagt Lincoln.

M. selbst erklärt: »Ich klage, damit ich weiterbehandelt werden kann. Und damit in Zukunft niemand mehr von medizinischer Versorgung ausgeschlossen wird.« Im Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs Hessen, der »nd« vorliegt, heißt es, M.s Interesse, durch die Geheimhaltung seiner Identität eine Abschiebung zu verhindern, sei nicht schutzwürdig.

»Schutzwürdig ist aber sein Interesse, sein Recht auf Gesundheitsversorgung einzuklagen«, meint Lincoln. Sie kritisiert, dass die Gerichte sich inhaltlich nicht mit diesem Anliegen des Klägers befasst hätten. »Es kann nicht sein, dass Menschen ohne Papiere ihre Rechte nicht einklagen können, weil das dann direkt zu ihrer Abschiebung führt«, sagt die Juristin. Hier bedürfe es einer grundsätzlichen Klärung. Die Kläger*innen wollen nun eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte prüfen.

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