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London will Asylrecht verschärfen
Immer wieder sterben Menschen bei der Flucht ins Vereinigte Königreich
Der Notruf kam kurz nach drei Uhr in der Früh. Ein kleines Boot war mitten im Ärmelkanal in Schwierigkeiten geraten, wenige Minuten später machten sich britische und französische Rettungsboote auf den Weg, unterstützt durch mehrere Helikopter und ein Fischerboot. Es war eine eisige Nacht, die Temperaturen bewegten sich um den Gefrierpunkt. In den folgenden Stunden konnten die Teams über 40 Menschen retten. Die meisten von ihnen wurden aus dem Wasser geborgen, aber nicht alle überlebten: Die britischen Behörden bestätigten am Mittwoch, dass vier Menschen zu Tode gekommen waren.
Die Betroffenheit über den Unfall ist groß. Politiker, Kirchenvertreter und Flüchtlingsstiftungen sprachen den Angehörigen der Opfer ihr Beileid aus. Premierminister Rishi Sunak sprach von einem »tragischen Verlust von Menschenleben«. Aber überraschend kam dies kaum. Jeden Monat setzen sich Hunderte Menschen in kleine, kaum seetaugliche Gummiboote, um die gefährliche Reise über den Ärmelkanal zu wagen. In diesem Jahr sind bereits über 40 000 Migranten auf diesem Weg nach Großbritannien gelangt – ein Rekord. Die Regierung sieht das in erster Linie als ein politisches Problem. Denn eines der wichtigsten Brexit-Versprechen war die Beschränkung der Einwanderung.
Die unzähligen Bootsüberfahrten erinnern jedoch regelmäßig daran, dass die Regierung dieses Versprechen nicht halten kann. Downing Street fürchtet den Frust der konservativen Wähler – diese halten irreguläre Bootsüberfahrten für einen Skandal und fordern eine härtere Migrationspolitik. So hat sich die Regierung in den vergangenen Jahren immer wieder daran gemacht, die Asylbestimmungen zu verschärfen.
Erst am Dienstag, nur einen Tag vor der Tragödie im Ärmelkanal, hatte Sunak die neuesten Pläne vorgestellt. Demnach soll Albanien künftig als »sicheres Land« eingestuft werden. 35 Prozent der Migranten, die auf irregulärem Weg per Boot nach Großbritannien gelangen, stammen aus diesem Land – es ist die größte Gruppe von Einwanderern. Wenn jedoch Albanien als sicheres Land gelten würde, könnten Asylanträge »innerhalb von Wochen anstatt Monaten« abgefertigt werden, sagte Sunak.
Weiterhin kündigte der Premierminister an, die Zahl der Sachbearbeiter im britischen Asylsystem zu verdoppeln. So soll der riesige Rückstau an unbearbeiteten Anträgen – weit über 100 000 – bis Ende 2023 bewältigt werden. Zudem will er die Bestimmungen zu moderner Sklaverei verschärfen; das heißt, es soll in Zukunft schwieriger werden, mit Verweis auf Sklaverei Asyl zu erhalten. Und schließlich hat Sunak angekündigt, im nächsten Jahr einen Gesetzesentwurf vorzulegen, laut dem jemand, der »auf illegale Weise« ins Land kommt, überhaupt kein Anrecht auf Asyl hätte. Bei vielen Parlamentsmitgliedern der Tories sind diese Vorschläge gut angekommen. Der Abgeordnete Simon Clarke aus Middlesbrough sagte, es sei ein »ernst zu nehmendes Maßnahmenpaket«.
Das Uno-Flüchtlingshochkommissariat äußerte hingegen, mit den umrissenen Plänen entferne sich Großbritannien von seiner »vorbildlichen humanitären Tradition«. Der Vorsitzende der Flüchtlingsstiftung Refugee Action, Tim Naor Hilton, nahm noch deutlichere Worte in den Mund: »Die meisten dieser Vorschläge sind grausam, wirkungslos und gesetzeswidrig, und sie werden nichts erreichen, um die wirklichen Probleme im System zu beheben.« Er fordert stattdessen sichere, regulierte Asylrouten, sodass Flüchtlinge den gefährlichen Weg über den Ärmelkanal gar nicht erst in Kauf nehmen müssen.
Der Zwischenfall von Mittwochnacht hat solche Argumente gestärkt. »Dass jemand bei diesen Temperaturen diese Reise antritt, zeigt, wie verzweifelt die Menschen sind«, sagte Alex Fraser vom britischen Roten Kreuz. »Niemand riskiert sein Leben, wenn er nicht das Gefühl hätte, keine andere Option zu haben. Bis wir sichere Routen haben, über die die Leute Asyl beantragen können, besteht die Gefahr, dass wir weitere solche vermeidbaren Tragödien erleben werden.«
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