- Politik
- Reichsbürger
Größer als gedacht
Nach den Razzien gegen das Netzwerk sogenannter Reichsbürger beginnt die politische Aufarbeitung
Es besteht zwar kaum ein Zweifel daran, dass der geplante Staatsstreich im Falle eines Falles wohl nicht von Erfolg gekrönt gewesen wäre. Nur eine Woche nach den Razzien werden aber bereits neue Details der Ermittlungsbehörden bekannt, die Auskünfte über die weitreichenden Dimensionen des Reichsbürger-Netzwerks geben. So wurden Pläne zur Errichtung 286 sogenannter Heimatschutzkompanien gefunden, deren Aufgabe sein sollte, Menschen festzunehmen und zu exekutieren sowie »Säuberungen« auf kommunaler Ebene durchzuführen. Auf zwei Feindeslisten waren mehrere Dutzend Namen vermerkt, darunter Moderator*innen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks sowie zahlreiche Kabinettsmitglieder. Mit 400 000 Euro in bar und Goldbarren im Wert von sechs Millionen Euro in einem Schließfach dürfte es den Verschwörern genauso wenig an finanziellen Mitteln wie an ausreichend Waffen und Munition gefehlt haben. Neben den über 90 bei den Razzien sichergestellten Waffen soll das Netzwerk über eines ihrer Mitglieder Zugang zu weiteren 200 legalen Waffen gehabt haben. Mindestens eine Handvoll Beschuldigter hatte bereits gemeinsame Schießtrainings absolviert, der innere Kreis des Netzwerks war zudem mit Satellitentelefonen ausgestattet, um intern sicher kommunizieren zu können. Bei den Durchsuchungen fanden die Ermittler*innen ebenfalls vorbereitete Verschwiegenheitserklärungen von mehr als 120 Personen. Das zeigt: Die Zahl derer, die vorab von den Umsturzplänen Kenntnis hatten, dürfte deutlich über die bislang 25 Festgenommenen und 54 Beschuldigten hinausgehen.
Allein im vergangenen Jahr gab es laut Innenministerin Nancy Faeser (SPD) 239 durch Reichsbürger*innen verübte Gewalttaten. Dem Verfassungsschutz zufolge werden dem Milieu bundesweit rund 23 000 Menschen zugezählt, von denen der Behörde zufolge lediglich etwas mehr als fünf Prozent »zugleich als Angehörige des rechtsextremistischen Spektrums einzuordnen sind«. Martina Renner, innenpolitische Sprecherin der Linken-Fraktion, hält diese Einschätzung für einen folgenreichen Irrtum, die in der Vergangenheit häufig zur Verharmlosung der Reichsbürger beigetragen habe. In einer aktuellen Stunde im Bundestag wies sie darauf hin, dass die Gemengelage aus unterschiedlichen und zum Teil kruden ideologischen Aspekten einer klaren Einordnung der Reichsbürger keineswegs widerspreche. »Faschistische Ideologie zeichnete schon immer aus, dass sie in der Lage war, verschiedene, auch widersprüchliche und gerade esoterische Elemente einzubinden«, so Renner.
Sämtliche im Bundestag vertretenen Parteien verurteilten die vereitelten Putschpläne und betonten, dass die von Reichsbürgern ausgehende Gefahr nicht länger kleingeredet werden dürfe. Der innenpolitische Sprecher der AfD-Fraktion, Gottlieb Curio, nutzte die Bühne hingegen, um genau diese Verharmlosung fortzuführen. Er fabulierte von einem »Operettenputsch« und behauptete angesichts der Tatsache, dass manche Medien bereits vorab von den anstehenden Razzien gewusst hatten, dass »das einzige, was an diesem Fake-Staatsstreich professionell war«, die »PR-Operation des Innenministeriums« gewesen sei. Den Fakt, dass die zu dem Reichsbürger-Netzwerk gehörende ehemalige AfD-Bundestagsabgeordnete Birgit Malsack-Winkemann noch 2019 von ihrer Partei für das Vertrauensgremium für die Haushalte der Nachrichtendienste vorgeschlagen worden war, quittierte er hingegen mit Schweigen.
Neben einer Verschärfung des Waffenrechts hatte Innenministerin Faeser im Zuge der Debatte ebenfalls angekündigt, verfassungsfeindliche Beamte künftig schneller aus dem Staatsdienst entfernen zu lassen. Hinsichtlich der personellen Überschneidungen von Reichsbürgern und der AfD forderten sowohl der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) als auch der bayerische Innenminister Joachim Herrmann (CSU), diese künftig stärker unter die Lupe zu nehmen.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.