- Politik
- Ungarn und die EU
Versteckspiel mit der Korruption
In Ungarn blickt man sehr unterschiedlich auf den Konflikt mit der EU und die eingefrorenen Gelder
Die EU enthält dem Land Milliarden vor, in Ungarn selbst hängt die Wahrnehmung des beispiellosen Vorgangs vom politischen Lager ab. Die letzte oppositionelle Tageszeitung, die sozialdemokratische »Népszava«, stellt in ihrer Berichterstattung die historische Dimension des in der vergangenen Woche gefassten Beschlusses der EU-Mitgliedsstaaten heraus. Zum ersten Mal sei ein EU-Mitglied wegen »systematischer Korruption« von der Union bestraft worden. Das regierungsnahe Magazin »Mandiner« betont dagegen, dass die EU die Pläne der Regierung zur Belebung der Wirtschaft insgesamt positiv beurteile und Ungarn ja noch die Chance habe, in zwei Jahren das zurückgehaltene Geld vollständig zu erhalten, sollte es dem Anforderungskatalog der EU gerecht werden.
Die Europäische Kommission hatte den Mitgliedsstaaten vorgeschlagen, Ungarn die insgesamt 6,3 Milliarden Euro nicht auszuzahlen, die dem Land aus dem für alle Mitgliedsstaaten beschlossenen Wiederaufbaufonds zustünden. Die Mitgliedsländer einigten sich schließlich am vergangenen Dienstag auf Botschafterebene darauf, etwas weniger, nämlich 5,8 Milliarden einzufrieren.
Anders als »Mandiner« schweigen die meisten regierungsnahen Medien über den aktuellen Verlauf des Streits zwischen Ungarn und der EU. Auch auf den Facebook-Seiten von Viktor Orbán und seiner Partei Ungarischer Bürgerbund (Fidesz) findet sich der Streit nicht. Fidesz und seine Verlautbarungsorgane beschäftigen sich stattdessen mit der angeblichen Finanzierung oppositioneller Parteien durch US-amerikanische Stiftungen und prangern diese an.
Politiker der Opposition werfen der Regierung vor, Ungarn zu schaden, weil sie das Ausbleiben der Gelder verursacht habe. Der sozialistische Abgeordnete Bertalan Tóth betonte in einer Parlamentsrede, dass nicht die EU schuld an der Blockade der Gelder sei, sondern die bereits zwölf Jahre währende korrupte Regierungspolitik des Fidesz. Der ehemalige Ministerpräsident Gyurcsány schreibt auf seiner Facebook-Seite von einer weißen Fahne, die auf der Budaer Burg gehisst worden sei – dem Amtssitz von Ministerpräsident Orbán. Ungarn wolle Geld von der EU, doch dieses fließe nicht, was Gyurcsány als einen Bankrott der Regierung wertet.
Welche Seite hat nun recht? Zumindest für die nächsten zwei Jahre dürfte die kritische Sicht der Opposition zutreffender sein. Ungarn entgehen in einer schwierigen konjunkturellen Lage dringend benötigte Mittel. Die gestiegenen Energiekosten belasten Unternehmen und Verbraucher, die Inflation ist höher als im Euro-Raum und seit Monaten streiken und demonstrieren Lehrer für eine Anhebung der Gehälter. Die Corona-Hilfen der EU in Milliardenhöhe hätten für eine Entlastung sorgen können, zumal die Regierung erklärt hatte, die Lehrergehälter erst erhöhen zu wollen, wenn Geld aus Brüssel fließt. Offenbar soll die EU so zum Sündenbock für die ausbleibenden Gehaltserhöhungen gemacht werden. Gegenüber Brüssel hatte die Regierung erklärt, die Corona-Hilfen zu 50 Prozent in den Klimaschutz und zu knapp 30 Prozent in die Digitalisierung zu investieren. Davon hätte das einheimische Handwerk profitiert.
Andererseits, und deshalb sperrt die EU ja das Geld, wäre ein bedeutender Teil davon in die Taschen von regimenahen Oligarchen und Orbáns Familienmitgliedern geflossen. Deren Korruptionsaffären setzen sich fort. Erst vergangene Woche ist bekannt geworden, dass Orbáns Schwiegersohn István Tiborcz das Gellért-Hotel in Budapest kaufen wird, dessen Thermalbad eines der Wahrzeichen der ungarischen Hauptstadt ist. Tiborcz erwarb und erweiterte sein Vermögen, nachdem sein Schwiegervater Viktor Orbán Ungarns Ministerpräsident wurde.
Das Schema dieser systemischen Korruption ist dabei so einfach wie schwer nachweisbar. Denn öffentliche Aufträge werden in Ungarn ordnungsgemäß ausgeschrieben. Die offizielle Lesart erklärt es dann zum reinen Zufall, dass den Zuschlag beispielsweise Familienangehörige des Ministerpräsidenten oder dessen berüchtigter mutmaßlicher Strohmann Lörinc Mészáros erhalten. In vielen Fällen bewirbt sich auch längst keine andere Firma mehr auf eine Ausschreibung, sobald klar ist, dass es auch einen systemnahen Bewerber gibt.
Dass das Orbán-Regime in Zukunft auf diese systemische Korruption verzichtet, ist kaum vorstellbar. Aus ihr resultiert schließlich die breite gesellschaftliche Basis, die den postkommunistischen Mafia-Staat trägt, wie der Soziologe Bálint Magyar Ungarn charakterisiert. Die Frage ist nun, ob es Fidesz gelingt, die Korruption so einzubetten, dass es der EU nicht mehr gelingt, sie nachzuweisen. Ungarn hat nun zwei Jahre Zeit, das eingefrorene Geld doch noch loszueisen.
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