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Ein anderer Begriff des guten Lebens
Der Politikwissenschaftler und Aktivist Alexander Behr spricht im Interview über die imperiale Lebensweise und globale Solidarität in Krisenzeiten
In Ihrem Buch stellen Sie Thesen auf, wie wir die imperiale Lebensweise überwinden und die sozial-ökologische Transformation umsetzen. Was bedeutet imperiale Lebensweise?
Alexander Behr ist Politikwissenschaftler und Journalist. Neben seiner Lehrtätigkeit engagiert er sich in weltweit vernetzten sozialen Bewegungen. Schwerpunktmäßig ist er in antirassistischen Zusammenhängen aktiv sowie in Klimabewegungen und Bewegungen für eine nachhaltige bäuerliche Landwirtschaft.
Es meint den Umstand, dass die meisten Menschen im globalen Norden und eine wachsende Zahl in den sogenannten Schwellenländern strukturell auf Kosten des Klimas, der Umwelt, der Indigenen, der Arbeiter*innen im globalen Süden und der Menschenrechte leben. Ihr Lebensstil beruht auf den Grundlagen fossiler Energien und ist nicht verallgemeinerbar, das heißt: Wenn alle so lebten, würde das System komplett kollabieren. Das ist zutiefst unsolidarisch.
Imperiale Lebensweise hat also mit jeder und jedem von uns zu tun?
Ja, aber es ist nicht nur ein Lebensstil, sondern auch eine Produktionsweise. Auch die müssen wir radikal ändern. Mein Ansinnen war es, zu diskutieren, wie der Begriff in politischen Kampagnen mit Leben gefüllt werden kann.
Als Gegenstück beziehen Sie sich auf globale Solidarität als eine Art Handlungsmaxime. Ist das nicht ein moralischer Appell, solidarisch zu sein, weil ich auf Kosten anderer lebe?
Ich glaube, der Motor der Geschichte sind die sozialen Bewegungen. Es geht nicht darum, über das richtige Einkaufsverhalten die Welt zu retten.
Aber wo ist die Trennlinie zum moralischen Appell?
Solidarisch zu sein setzt eine Haltung voraus, ich spreche auch von Kampfsolidarität. Es geht darum, diese Haltung zu entwickeln und zwar gemeinsam mit anderen. Erst wenn wir alleine bleiben, endet das mit moralischer Gewissensberuhigung. Im schlimmsten Fall grenze ich mich ab: »Ich bin besser als diejenigen, die zu Lidl oder Aldi gehen«. Dabei wird dann übersehen, welche Klassenprivilegien damit verbunden sind, dass man überhaupt im Biomarkt einkaufen gehen kann.
Dennoch werben Sie für kritischen Konsum …
Aber nur als ersten Politisierungsschritt. Zum Beispiel im Supermarkt: »Diese Tomate ist mit Ausbeutung verbunden, ich kaufe das nicht mehr.« Das ist eine Haltung, die ich entwickele, weil ich mich über die Arbeitsbedingungen informiert habe. Und als nächsten Schritt unterschreibe ich vielleicht eine Petition, gehe vielleicht mit auf die Straße, mache vielleicht bei dieser oder jener Aktion mit.
Aber warum sollten Menschen, die vom aktuellen System profitieren, überhaupt auf ihre Privilegien verzichten?
Ich glaube, wir müssen einen anderen Begriff des guten Lebens entwickeln, der eben nicht mehr bedeutet, ein Zweitauto, ein Einfamilienhaus, Flugreisen, jeden zweiten Tag Fleisch auf dem Teller, sondern einen anderen Begriff von Wohlstand und Freiheit.
Wie soll der aussehen?
Etwa dass es als Freiheit und als Wohlstand empfunden wird, nicht im Stau stehen zu müssen, sondern Zugang zu günstigen oder gratis gut ausgebautem öffentlichen Nahverkehr zu haben. Dass ich mich gesund ernähren kann, dass die Kinder auf der Straße spielen können, und nicht Gefahr laufen, von Autos gefährdet zu werden.
An dieser Stelle argumentieren Sie auch ordnungspolitisch, fordern höhere Steuern auf Fleisch und weniger Flugverkehr.
Meiner Meinung nach ist es wichtig, dass der Staat solche Forderungen umsetzt. Das ist unter Bewegungslinken umstritten und klingt befremdlich. Aber ich denke, es geht um eine Dialektik zwischen dem Aufbau sozialer Bewegungen von unten, die bestimmte Dinge fordern, und der Umsetzung dieser Forderungen.
Sehen Sie nicht die Gefahr, dass dadurch ein neues Ungleichgewicht entsteht?
Absolut. Wenn etwa das Fliegen nur teurer wird, dann wird das eine Domäne der wenigen Reichen. Dem können wir allerdings begegnen, etwa mit einem Kontingent an Flugreisen oder dem Verbot von SUVs.
Ihr Vorschlag ist eine solidarische Arbeitsteilung zwischen Basisbewegungen, Gewerkschaften und progressiven Parteien. Um konkret zu werden: Sie sind in verschiedenen Netzwerken aktiv, unter anderem in einer Solidaritätskampagne des Europäischen Bürger*innen Forums mit der Landarbeiter*innengewerkschaft SOC in Südspanien, in Almeria. Welche Erfahrungen machen Sie?
Wir haben zum Beispiel recht gute Erfahrungen in Zusammenarbeit mit der Gewerkschaft Verdi gemacht, als die in den 2000er Jahren eine Kampagne gegen die Discounterkette Lidl initiiert hat. Da haben wir eine Brücke nach Almeria geschlagen. Sicher, vertikale Arbeitsteilung zwischen Basisbewegungen und institutionalisierten Akteur*innen wie Kirchen, Gewerkschaften oder linken Parteien können mitunter auch schwierig sein, da gibt’s nicht selten Krach, aber meiner Meinung nach ist das kein Grund, es nicht immer wieder zu versuchen. Allerdings muss der Maßstab klar bleiben, also ein gutes Leben für alle Menschen innerhalb der ökologischen Grenzen des Planeten.
Sie widmen den falschen Alternativen ein ganzes Kapitel, darunter die Technikgläubigkeit, die auch in der traditionellen Linken fest verankert ist.
Es ist vollkommen klar, die Klima-Umwelt-Krise kann nicht technisch gelöst werden. Einmal gibt es die Illusion der Entkoppelung von CO2-Ausstoß und Wirtschaftswachstum. Das entspricht überhaupt nicht der gängigen Empirie. Es gibt lediglich eine relative Entkoppelung, bei der die Wirtschaft wächst und der CO2-Ausstoß nur weniger stark ansteigt. Aber wir brauchen angesichts des schon jetzt kaum mehr greifbaren 1,5 Grad-Limits eine radikale, absolute Entkoppelung. Wir werden das mit technischen Innovationen nicht geregelt kriegen, weil es den sogenannten Rebound-Effekt gibt.
Das heißt?
Es gibt laufend technische Verbesserungen, beispielsweise bei der Effizienz von Motoren. Gleichzeitig haben wir eine totale Zunahme des motorisierten Individualverkehrs. Die Effizienzgewinne werden also aufgefressen. Wir müssen dafür sorgen, dass bestimmte Wirtschaftszweige schrumpfen: der motorisierte Individualverkehr, der Flugverkehr, die Kreuzschifffahrt, die Fleischproduktion, die Containerfracht.
Das fordert heraus, die Frage nach der Finanzierung zu stellen. Das Thema Grundeinkommen etwa spielt im Buch keine Rolle.
Ich habe mich dem Thema nicht im Detail gewidmet. Aber ich halte es für eine sehr gute Idee, weil es hervorragend vereinbar ist mit den Prinzipien des guten Lebens für alle. Gleichzeitig denke ich, dass es um eine Ausweitung der öffentlichen Infrastruktur in allen Bereichen gehen muss. Ich verwende dazu den Begriff des Infrastruktursozialismus: Öffentlicher Nahverkehr, Gesundheitsversorgung, Bildung und Kinderbetreuung gratis, günstige Mieten sowie eine günstige, gesunde öffentliche Kantinenversorgung. Damit wären weniger Bereiche des Lebens den Marktverhältnissen untergeordnet. Für die Durchsetzung dieser Maßnahmen braucht es eine viel höhere Besteuerung von Unternehmensgewinnen, Erbschaften, Vermögen und Finanztransaktionen.
Sie reflektieren, dass soziale Bewegungen isoliert betrachtet oftmals nicht in der Lage sind, Veränderungen durchzusetzen, und untersuchen dafür unter anderem die globalisierungskritische Bewegung. Braucht es eine Institutionalisierung von Bewegungen?
Nein, auf keinen Fall. Bewegungen müssen radikal und unabhängig sein. Es braucht aber beides – starke soziale Bewegungen auf der Straße und fortschrittliche Akteur*innen, die die Forderungen, die von dort kommen, in Gesetze gießen können. Ich glaube, dass es wichtig ist, beispielsweise mit linken Parteien oder Gewerkschaften Gesprächskorridore zu entwickeln und offen zu halten, die eben dafür sorgen können, dass die Forderungen der sozialen Bewegungen umgesetzt werden. Anders formuliert: Soziale Bewegungen geben fortschrittlichen Parteien über eine gewisse Zeit einen Kredit. Wenn sie diesen Kredit verspielen, indem sie zu einer Stütze des fossilen Kapitalismus werden, können wir ihnen den wieder entziehen.
Wie könnte eine solche Institutionalisierung aussehen? Sie beziehen sich in Ihrem Buch auf die verschiedenen Internationalen. Sehen Sie darin ein mögliches Modell?
Mich beeindruckt die Geschichte der auf globaler Solidarität aufbauenden Bewegungen sehr. In den Versuchen der verschiedenen Internationalen steckt sehr viel, was wir für heute lernen können. Nun stellt sich die Frage: Wie kann eine Internationale der Klimagerechtigkeitsbewegungen aussehen? Braucht es eine neue Internationale oder braucht es vielleicht viele Internationalen? Ich halte das für eine spannende Debatte. Wovon ich überzeugt bin, ist, dass es auf globale Solidarität abzielende Bewegungen braucht und dass diese Bewegungen einen Austauschrahmen brauchen. Wir müssen an Orten zusammenkommen, zu Tausenden, Zehntausenden, Hunderttausenden, um die solidarische Weltordnung oder revolutionäre Zielsetzungen zu entwickeln.
Alexander Behr: Globale Solidarität. Wie wir die imperiale Lebensweise überwinden und die sozial-ökologische Transformation umsetzen. Oekom 2022, 280 S., 20 €.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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