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Geldbeutel entscheidet über Mobilität
Im »Atlas für Migration« sammelt die Rosa-Luxemburg-Stiftung wichtige Daten und Fakten über Menschen in Bewegung
Wer migriert, wird zu einer anderen Person. Krieg, Umweltkatastrophen, Verfolgung und Armut zwingen Menschen überall auf der Welt, ihren Wohnort zu verlassen und damit ihre vertraute Existenz aufzugeben. Im Jahr 2020 gab es weltweit rund 281 Millionen internationale Migrant*innen, ein Höchststand. Noch größer ist die Zahl derer, die innerhalb des eigenen Landes migrieren.
Über Menschen in Bewegung gibt es in Europa viele Vorurteile. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung stellt dem mit dem »Atlas der Migration« eine umfangreiche und zugleich überschaubare Sammlung von Daten und Fakten entgegen. In 25 Kapiteln auf jeweils zwei Seiten werden Glaubenssätze widerlegt: Nicht »alle« wollen nach Europa, laut den Vereinten Nationen erfolgte 80 Prozent der internationalen Migration in Afrika innerhalb der eigenen Region. Es werden Werkzeuge an die Hand gegeben: Wie erkennt man, ob Karten und Grafiken ein verzerrtes Bild vermitteln, obwohl die Zahlen stimmen? Und es wird ein kenntnisreicher Überblick vermittelt: Geopolitische Interessen spielen dabei genauso eine Rolle wie zivilgesellschaftliche Selbstorganisation und kapitalistische Zwänge. Bislang fehlt ein eigenes Kapitel zur gescheiterten beziehungsweise bis heute schleppenden Evakuierung afghanischer Ortskräfte, Journalist*innen und Menschenrechtler*innen nach Deutschland.
Eins der einschneidendesten Ereignisse in diesem Jahr war der russische Überfall auf die Ukraine. »Kein anderer Krieg in der Neuzeit hat so schnell so viele Menschen zu Flüchtlingen gemacht«, schreibt Johanna Bussemer gleich zu Beginn. Mit 14,5 Millionen internationalen und sieben Millionen Flüchtlingen innerhalb der Landesgrenzen musste zumindest zwischenzeitlich fast die Hälfte der Menschen in der Ukraine ihren Wohnort verlassen. Die überwiegend offenen Landesgrenzen haben den Menschen dabei geholfen. Bussemer erklärt, dass die Ungleichbehandlung zwischen ukrainischen und Geflüchteten anderer Nationen nicht allein auf Rassismus zurückzuführen sei, sondern auch aus geografischer Nähe und einem daraus resultierenden »Solidarisierungseffekt« und dem unterschiedlichen rechtlichen Status herrühre. Durch das EU-Assoziierungsamkommen können ukrainische Geflüchtete visafrei einreisen, und die EU-Massenzustromrichtlinie gibt Ukrainer*innen unkompliziert alle Rechte, um hier leben und arbeiten zu können. Allerdings wäre es möglich, die Vorschriften für andere Geflüchtete zu ändern.
Unterdessen wird der Klimawandel zunehmend eine der wichtigsten Fluchtursachen. Allein in Asien gab es der Broschüre zufolge 2021 mehr als 57 Millionen Klimaflüchtlinge, die Weltbank erwartet bis zu 216 Millionen bis zum Jahr 2050. Doch ein anerkannter Fluchtgrund sind Umweltprobleme bis heute nicht. »Die Industrieländer, die für den größten Ausstoß von Kohlendioxid verantwortlich sind, sind auch die größten Grenzschützer der Welt«, schreibt Amali Tower im Kapitel »Die Umwelt als Gefahr«. Die sieben Länder mit den höchsten CO2-Emissionen, darunter die USA, Deutschland und Frankreich, gäben zusammen im Schnitt mehr als doppelt so viel für »Grenzkontrollen und kontrollierte Einwanderung« wie für die Finanzierung »klimawirksamer Maßnahmen« aus. Das ist nur ein Beispiel dafür, dass der Geldbeutel nicht nur »maßgeblich über den Grad der (eigenen) Bewegungsfreiheit« entscheidet, wie Maria Oshana im Kapitel »Käufliche Freiheit« schreibt. Die Mobilität der »Anderen« wird vielfach durch eine Kosten-Nutzen-Rechnung der reicheren Nationen reguliert.
Milliarden für die Migrationsabwehr: Die Macht und das Geld von Frontex sind in der EU beispiellos
Wo an der einen Stelle Millionen investiert werden, um Geflüchtete davon abzuhalten, europäischen Boden zu betreten, werden andere Migrant*innen eigens angeworben. In der Landwirtschaft werden regelmäßig Erntehelfer*innen eingeflogen. Und für die Pflege älterer Menschen ziehen Fachkräfte bei Bedarf sogar als sogenannte Live-Ins bei Auftraggeber*innen ein. Fast die Hälfte dieser Migrant*innen in Deutschland kommt aus Polen. Erst seit einem Gerichtsurteil im vergangenen Jahr steht ihnen auch für Bereitschaftsdienste der Mindestlohn zu – auf etwa 1450 Euro netto summiert sich das. Für einen hohen Preis: »Zeit für sich selbst haben die Pflegenden kaum«, schreiben Petra Ezzeddine und Zuzana Uhde im Beitrag »Die Pflegewanderung«. Und es entstünden »Pflegeketten«, in denen Migrant*innen aus Ländern mit niedrigeren Löhnen »nachrücken«. Die eigene Familie muss bei den Pflegekräften hinten anstehen, die Kinder werden oft von den Großeltern großgezogen.
Der Atlas ist ein Open-Source-Projekt und kann kostenfrei bestellt oder heruntergeladen werden. Auf rund 60 Seiten geben die Herausgeber*innen einen für Einsteiger*innen ins Thema und »Fortgeschrittene« eine gleichermaßen bereichernden Überblick. Zahlreiche Abbildungen vermitteln ein besseres Gefühl für die theoretischen Wissensbausteine, die kompakten Kapitel laden zum Nachschlagen und Weiterlesen ein. Vor allem aber wird klar: Die meisten Menschen migrieren nicht ohne Not, und für ein gutes Leben ohne Krieg und Gewalt macht der Kontostand den entscheidenden Unterschied.
Atlas der Migration. Neue Daten und Fakten über Menschen in Bewegung. Hg. Johanna Bussemer, Franziska Albrecht, Dorit Riethmüller und Christian Jakob. Abrufbar unter
dasnd.de/migrationsatlas
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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