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Geduldiges Papier
Berlin will stadtverträglichen Wirtschaftsverkehr und »Neue Mobilität« fördern
Vor dem Jahreswechsel soll man das, was unfertig geblieben ist, noch fertigstellen. Das dürfte sich auch der Senat gedacht haben, der sich nun nach langer Uneinigkeit über die letzten beiden Kapitel des Berliner Mobilitätsgesetzes verständigt hat. Die Förderung des Wirtschaftsverkehrs und der sogenannten neuen Mobilität sollen Gesetzesrang erhalten. Das Mobilitätsgesetz ist damit »endlich vollständig«, sagte Berlins Mobilitätssenatorin Bettina Jarasch (Grüne) kurz vor Weihnachten. »Damit setzen wir bundesweit Maßstäbe für eine zukunftsweisende Verkehrspolitik.«
Zwar sind die beiden Abschnitte noch nicht so richtig fertig, weil sie nach der Abstimmung mit den Bezirken zunächst in das Abgeordnetenhaus eingebracht werden müssen. Tatsächlich wird dann aber ein Gesetz abgeschlossen, das so in Deutschland einmalig ist. Mit dem Mobilitätsgesetz soll dem Umweltverbund Vorrang vor dem motorisierten Individualverkehr eingeräumt werden. 2018 beschloss das Abgeordnetenhaus die ersten Abschnitte zum öffentlichen Personennahverkehr und zur Radmobilität. Anfang 2021 folgte dann der Abschnitt zum Fußverkehr – nun also die für Wirtschaft und neue Mobilität. Wie bei den Abschnitten zuvor sind auch diese unter Beteiligung verschiedener Interessenvertreter erarbeitet worden.
Die Wirtschaft begrüßt, was dabei entstanden ist. Davon, dass der Wirtschaftsverkehr »endlich« die Bedeutung bekommt, »die er verdient«, spricht der Geschäftsführer der Unternehmensverbände Berlin-Brandenburg, Christian Amsinck (UVB). Darüber, dass dieser »endlich« in das »ihm gebührende Licht« gerückt wird, freut sich auch Manja Schreiner von der Fachgemeinschaft Bau, zugleich Vizechefin der Berliner CDU.
Lange hat es auch hier gedauert. Ursprünglich sollten die Abschnitte bereits in der vergangenen Legislaturperiode verabschiedet werden. Vor allem das Thema City-Maut – eine Idee, die die Grünen befürworten – soll eine Einigung verzögert haben. Die Industrie- und Handelskammer Berlin gibt sich dabei erleichtert, dass die Maut jetzt vom Tisch ist. Die wenig verwunderliche Begründung: Eine City-Maut wäre nicht nur sehr aufwendig, »sondern eine zusätzliche finanzielle Belastung des Wirtschaftsverkehrs«, so Vizepräsident Robert Rückel.
Dass der Wirtschaftsverkehr künftig Vorrang vor dem motorisierten Individualverkehr genießen soll, zeigt sich beispielhaft am besten daran, dass künftig Parkplätze zugunsten von Lieferzonen wegfallen sollen. Auch sollen verkehrsrelevante Daten auf einer Online-Plattform zur besseren Verkehrssteuerung bereitgestellt werden, was auch Christian Amsinck von den UVB hervorhebt. Statt aus politischen Erwägungen einzelne Straßen zu sperren, müssten die Bezirke und die Mobilitätsverwaltung nun mithilfe von Verkehrsdaten die Folgen solcher Maßnahmen zunächst kalkulieren, sagt er. »Wir brauchen datenbasierte Gesamtkonzepte und keine verkehrspolitischen Schnellschüsse.«
Maßnahmen zur Verkehrsberuhigung wie auf der Friedrichstraße führen bekanntermaßen immer wieder auch zu Protesten von anliegenden Gewerbetreibenden. Die wiederkehrenden Befürchtungen: Kunden würden ausbleiben, wenn sie nicht mehr mit dem Auto vorfahren können, auch seien Probleme bei der Anlieferung vorprogrammiert, wenn Autos aus Straßen »ausgesperrt« werden.
Die Friedrichstraße, eines der großen verkehrspolitischen Aufregerthemen des Jahres 2022, hat dem Wirtschaftsverkehr ohnehin einiges an Aufmerksamkeit beschert. Nach der Klage von Gewerbetreibenden musste der seit 2018 für den Autoverkehr gesperrte Abschnitt wieder geöffnet werden, bevor er dann unter anderen gesetzlichen Voraussetzungen im neuen Jahr durch eine Umwidmung schließlich wieder gesperrt werden kann. Für die straßenrechtliche Teileinziehung, wie das Verfahren heißt, hatte die Senatsmobilitätsverwaltung ihr Konzept für den Straßenabschnitt auch noch einmal überarbeitet. So soll der Lieferverkehr – anders als ursprünglich mal geplant – in dem dann zur Fußgängerzone umgewandelten Abschnitt doch zugelassen werden.
Hier die Fußgänger, die sich über Radfahrer aufregen, die die Straße zum Radschnellweg auserkoren haben, dort die Gewerbetreibenden, die sowieso gegen Autosperren, aber ebenfalls vor allem gegen Radfahrer wettern: Die verkehrspolitischen Kämpfe um die fälschlicherweise gern als Boulevard bezeichnete Friedrichstraße gab und gibt es selbstverständlich auch andernorts und immer wieder in Berlin zu bewundern. Sie zeigen, dass die Stadt zwar wächst und wächst, zugleich deren Verkehrsnetz aber noch längst nicht vorsieht, dass klimaverträgliche Fortbewegungsarten gleichrangig oder sogar bevorzugt gegenüber dem motorisierten Individualverkehr behandelt werden.
Dies ist eigentlich das Ziel des Mobilitätsgesetzes. Insbesondere Radverkehrsaktivisten geht die Umsetzung des geduldigen Papiers nicht schnell genug. Als die Verabschiedung der ersten Kapitel des Gesetzes in diesem Sommer vier Jahre alt wurde, zog der Verein Changing Cities eine kritische Bilanz. Der Verein, der aus dem Fahrradvolksentscheid hervorging – dem Anstoß für das spätere Mobilitätsgesetz –, monierte, dass die zuständige Senatsverwaltung »weitgehend ergebnislos« Zeit verstreichen ließ. Bislang seien viel zu wenige Streckenkilometer beim Vorrangnetz des Radverkehrs gebaut worden, folglich müsste in den kommenden Jahren unwahrscheinlich viel umgesetzt werden, will man die selbst gesteckten Ziele erreichen.
Klar, an jedem einzelnen Kilometer lässt sich der Erfolg messen. Was weniger sichtbar ist, sind die dahinter liegenden Strukturen, die verändert werden müssen, um die Streckenkilometer umsetzen zu können. Konkrete Ziele im Radverkehrsplan, dazu Radverkehrsplaner, die diese in den Bezirken umsetzen sollen, die Koordinierungsstelle in der Senatsverwaltung und die gemeinsame Projekteinheit Radwege von Bezirken und Senatsverwaltung: Seit 2018 ist etwas passiert. Dass viele sagen, ihnen geht das nicht schnell genug, kann man ihnen aber auch nicht verübeln.
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