Bedingte Waffenbrüder

In Rüstungsfragen sind Deutschland und Frankreich Partner, aber auch Konkurrenten – insbesondere seit der verkündeten »Zeitenwende«

  • Jürgen Wagner
  • Lesedauer: 6 Min.
Bislang nur eine Computersimulation: das französisch-deutsche Luftkampfsystem »Future Combat Air System« (FCAS)
Bislang nur eine Computersimulation: das französisch-deutsche Luftkampfsystem »Future Combat Air System« (FCAS)

Schon lange streben Deutschland und mehr noch aber Frankreich danach, aus der Europäischen Union eine Großmacht zu machen, die dank eines starken heimischen rüstungsindustriellen Komplexes auf Augenhöhe mit den USA agieren kann. Den Regierungen beider Länder ist bewusst, dass es ihnen nur gemeinsam gelingen wird, Widerstände gegen den Aufbau eines europäischen Rüstungskomplexes zu überwinden. Gleichzeitig wachsen aber auch die Spannungen wegen des jeweiligen Anteils am europäischen Rüstungskuchen. Das zeigt sich insbesondere anhand der Debatten seit der sogenannten Zeitenwende immer deutlicher.

Nach dem britischen Referendum zum EU-Austritt 2016 erklärten sich Deutschland und Frankreich zügig zum neuen »Führungsduo« der EU und setzten eine Reihe weitreichender Initiativen in Gang. Als wegweisend erwies sich das Treffen des deutsch-französischen Ministerrats am 13. Juli 2017. Dort wurden unter anderem zwei deutsch-französische Rüstungsgroßprojekte beschlossen: zum einen das Luftkampfsystem »Future Combat Air System« (FCAS) mit einem geschätzten Gesamtvolumen bis zu 500 Milliarden Euro und damit eng verbunden das geplante Kampfpanzersystem »Main Ground Combat System« (MGCS), das es immerhin auf 100 Milliarden Umsatz bringen könnte. Mit geschätzten Auslieferungsterminen zwischen 2035 (MGCS) und 2040 (FCAS) sind beide Vorhaben allerdings noch in einem sehr frühen Stadium und ihre Realisierung ist alles andere als gesichert.

Das Konzept dieser Rüstungsprojekte ist – zumindest aus deutsch-französischer Sicht – äußerst attraktiv: Beide Länder einigen sich zunächst auf alle wesentlichen Rahmenbedingungen und Spezifikationen. Erst danach werden weitere Länder ins Boot geholt, um aus den Projekten dann die europäischen Standardsysteme zu machen. Die ohnehin dominierende Stellung der deutsch-französischen Rüstungskonzerne würde so weiter gestärkt, kleinere Anbieter würden aus dem Markt gedrängt und so würde unter dem Stichwort der »Konsolidierung« die Herausbildung eines deutsch-französisch dominierten Rüstungskomplexes beschleunigt.

Am 22. Januar 2019, dem 56. Jahrestag des Élysée-Vertrags, folgte die Unterzeichnung des deutsch-französischen Aachener Vertrags. Darin festgehalten wird die »Erarbeitung gemeinsamer Verteidigungsprogramme«, um den Ausbau eines europäischen Rüstungskomplexes voranzubringen mit dem Ziel, die »Konsolidierung der europäischen verteidigungstechnologischen und -industriellen Basis zu fördern«.

Italien, Schweden und Polen lehnen ab

Doch schnell geriet der deutsch-französische Rüstungsmotor ins Stottern. Das lag einmal daran, dass andere EU-Länder kein großes Engagement an den Tag legten, sich den deutsch-französischen Vorgaben unterzuordnen. So schlossen sich Italien und Schweden dem britischen Kampfflugzeugprojekt »Tempest« an, das sich zu einer ernsten Alternative zum FCAS entwickelt. Polen wiederum wollte ursprünglich in die Entwicklung des MCGS-Kampfpanzers involviert werden, wurde aber nicht berücksichtigt – und stieg kurzerhand auf US-Panzer um.

Doch auch innerhalb des Führungsduos knirschte es immer lauter: Beim FCAS erhob die deutsche Seite den Vorwurf, Frankreich lege seine Führungsrolle so aus, dass es darauf poche, das Projekt allein nach seinen Interessen zu gestalten (»French Combat Air System«). Andererseits beschuldigt der französische Luftfahrt- und Rüstungskonzern Dassault seinen Partner Airbus mit einiger Berechtigung, sich durch die Kooperation fehlendes (Tarnkappen-)Know-How anzueignen. Die Konflikte waren zwischenzeitlich derart heftig, dass mehrfach über das Ende des Prestigeprojektes spekuliert wurde. Noch immer kommt FCAS nur schleppend voran.

Festgefahren ist auch das Kampfpanzer-Projekt MGCS, bei dem Deutschland die Führungsrolle innehat. Schuld sind hier die explizite Kopplung an Fortschritte beim FCAS und die komplizierte Verteilung der Aufträge zwischen den Konzernen KNDS (Nexter + KMW) und Rheinmetall. Als Rheinmetall dann im Juni 2022 mit dem »Panther KF51« auch noch ein Konkurrenzprodukt vorstellte, löste das in Paris nur noch Kopfschütteln aus.

Die Kosten für die beiden Großprojekte sollen bis 2026 aus dem neuen 100-Milliarden-Sondervermögen der Bundeswehr bestritten werden. Als im Dezember 2022 die ersten Gelder aus dem Sondervermögen abgesegnet wurden, stieß auch einiges andere auf französischer Seite auf Unverständnis. Da sind einmal die 8,3 Milliarden Euro (plus Folgeaufträge) für die Anschaffung von US-amerikanischen »F-35«-Kampfjets. Lange war mit französischer Unterstützung die Anschaffung von »F-18« bevorzugt worden, weil in den deutlich moderneren »F-35« eine Bedrohung für die Realisierung des FCAS-Projektes gesehen wurde. Für Ärger in Paris sorgte auch die Entscheidung, als Ersatz für die Seefernaufklärer »P-3C Orion« zwölf »P-8 Poseidon« des US-Herstellers Boeing zu erwerben und über das Sondervermögen zu finanzieren. Schließlich wurde damit das deutsch-französische Programm für neue Seefernaufklärer namens »Maritime Airborne Warfare System« (MAWS) mehr oder weniger überflüssig.

Aus Sicht Frankreichs war diese Episode geradezu symptomatisch für Berlins Neigung, im Zweifelsfall lieber von den USA zu kaufen als in den Aufbau eines europäischen Rüstungskomplexes zu investieren. Als weiteres Beispiel betrachtet Paris das im Oktober 2022 auf deutsche Initiative ausgerufene Vorhaben European Sky Shield, bei dem 15 europäische Staaten bei der Stärkung der Luftabwehr zusammenarbeiten wollen. Weshalb Frankreich auch hierauf äußerst verschnupft reagierte, ließ sich damals in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung nachlesen: »Geplant ist die gemeinsame Beschaffung und Nutzung von Luftverteidigungssystemen aus Israel (›Arrow 3‹) und Amerika (›Patriot‹). Für Frankreich kommt die Entscheidung einer Absage an den Rüstungsstandort Europa gleich. Denn Berlin hätte auch das von den Rüstungskonzernen MBDA und Thales im Rahmen der französisch-italienischen Zusammenarbeit entwickelte Luftverteidigungssystem ›SAMP/T‹ sowie ›Aster‹-Raketen in Betracht ziehen können.«

Innereuropäisches Wettrüsten

Hinter vielen dieser Konflikte stecken nicht bloß unterschiedliche Konzerninteressen, sondern auch waschechte Auseinandersetzungen um die Führungsrolle in europäischen Rüstungsangelegenheiten. Während Deutschlands Dominanz im Wirtschaftsbereich unumstritten ist, gerät nun auch Frankreichs Spitzenposition im Militär- und Rüstungsbereich in Gefahr.

In Frankreich wurde sehr wohl vernommen, dass Kanzler Olaf Scholz stolz verkündete, durch das Bundeswehr-Sondervermögen werde Deutschland bald über die größte konventionelle Armee in Europa verfügen. In Paris wird eine generelle Verschiebung des Kräfteverhältnisses befürchtet, wie etwa das gut vernetzte französische Nachrichtenportal Bruxelles berichtete: »Deutschlands strategische Neupositionierung und sein Wunsch, die Führung in der europäischen Verteidigung zu übernehmen, belasten das Verhältnis zwischen Paris und Berlin schwer. Bis jetzt gab es in den Beziehungen in dieser von Frankreich und Deutschland gebildeten ›Allianz der Gegensätze‹ eine Art stillschweigendes Einverständnis. Paris war führend in der Verteidigungs- und strategischen Außenpolitik. Berlin setzte sich bei Wirtschaft und Außenhandel durch.«

Nicht erst seit dem russischen Angriff auf die Ukraine hat Frankreich deshalb sicher auch mit Blick auf die europäischen Kräfteverhältnisse seine Verteidigungsausgaben deutlich erhöht und plant eine weitere massive Steigerung. Laut Medienberichten von dieser Woche soll das Budget von rund 47 Milliarden Euro dieses Jahr auf 65 Milliarden bis 2030 wachsen. Wenn man die Erhöhungen seit 2019 mit einrechne, bedeute dies eine Verdoppelung der Militärausgaben Frankreichs und die größte Verteidigungsanstrengung seit 50 Jahren, sagte Macron am Freitag auf dem Luftwaffenstützpunkt in Mont-de-Marsan. Die Gelder werden nicht zuletzt dem französischen Atomwaffenarsenal zugutekommen, das dem Land als einziger EU-Nuklearmacht weiterhin in Militärfragen eine dominierende Rolle sichert. Genau aus diesem Grund läuten in Paris alle Alarmglocken, wenn von deutscher Seite Forderungen nach einer Europäisierung dieses Arsenals – sprich einem deutschen Zugriff – laut werden.

Sprengstoff ist also genug vorhanden im deutsch-französischen Verhältnis – ob diese Konflikte zugunsten einer gemeinsamen Interessendurchsetzung hintangestellt werden, muss sich noch erweisen. Entschieden ist allerdings bereits, wo die Prioritäten der deutsch-französischen Zusammenarbeit liegen. Deutlich wurde dies unter anderem durch ein weiteres gemeinsames Prestigeprojekt, den im Frühjahr 2022 verabschiedeten »Strategischen Kompass«. Das vor allem unter deutscher und dann französischer Ratspräsidentschaft erarbeitete Grundsatzdokument soll die künftige EU-Außen- und Sicherheitspolitik entscheidend prägen. Während in dem 46 Seiten umfassenden Dokument etliche Vorschläge für neue Rüstungsprojekte gemacht wurden, nimmt der Bereich »Förderung von Abrüstung, Nichtverbreitung und Rüstungskontrolle« darin gerade einmal eine halbe inhaltsleere Seite ein.

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