Ein bisschen Realo-Utopie darf sein

Die Berliner Grünen versammeln sich trotz Lützerath und Enteignungsfrage hinter Bettina Jarasch

  • Nora Noll
  • Lesedauer: 4 Min.

Auf dem Gehweg gegenüber des Estrel-Hotels in Neukölln sitzen zwei Aktivist*innen auf Klappstühlen. Constanze Kehler, Sprecherin von Deutsche Wohnen und Co enteignen, und ein Mitstreiter wollen am Samstagvormittag die Grünen-Politiker*innen auf ihrem Weg zur Landesdelegiertenkonferenz abpassen. »Wir wollen ihnen zeigen, dass wir mit dem Wahlprogramm nicht zufrieden sind«, sagt Kehler.

Drei Wochen vor der Wiederholungswahl zum Abgeordnetenhaus beschließen die Berliner Grünen ein aktualisiertes, 130-seitiges Wahlprogramm. Darin geht es auch um die Umsetzung des Volksentscheides »Deutsche Wohnen und Co enteignen«. »Wir würden uns wünschen, dass die Umstände uns nicht zwingen, die Vergesellschaftung als letztes Mittel anzuwenden, um den verfassungsmäßigen Auftrag erfüllen zu können«, heißt es im Grünen-Programm. Enteignung als Ultima Ratio – das entspricht keineswegs den Vorstellungen der Aktivist*innen vor dem Tagungshotel. »Die Vergesellschaftung ist kein ›letztes Mittel‹, sondern eine Arbeitsauftrag von mehr als einer Million Berliner*innen«, so Kehler.

Ein Delegierter bedankt sich im Vorbeigehen »für den Druck, den ihr macht, auch auf uns«. Im Konferenzsaal selbst kommt der Druck vor allem vom Kreisverband Friedrichshain-Kreuzberg. Einzelne von ihnen tragen demonstrativ die lila Westen der Enteignungs-Initiative, ein Mitglied des Kreisverbandes fordert eine »Enteignungsregierung«, die sich an die »Besitzstrukturen der Moderne« anpasst. Kasimir Heldmann, der Landessprecher der Grünen Jugend Berlin, liest ein kritisches Grußwort der Initiative Deutsche Wohnen und Co enteignen vor.

Doch Bettina Jarasch bleibt zurückhaltend. »Ob es in fünf oder zehn Jahren ein Vergesellschaftungsgesetz gibt, kann heute niemand seriös sagen«, sagt die Grünen-Spitzenkandidatin in ihrer Eröffnungsrede. Ihr sei es »ernst mit dem, was wir fast 60 Prozent der Berliner Bevölkerung versprochen haben«, aber ein entsprechendes Gesetz müsse verfassungskonform und rechtssicher sein. Es läge an der vom Senat eingesetzten Expertenkommission, dies zu prüfen.

In anderen Zukunftsfragen wird Jarasch klarer. Was die Wohnungs- und Mietenpolitik in Berlin betrifft, sollen in zehn Jahren 50 Prozent aller Wohnungen gemeinwohlorientiert sein und neben den Landeseigenen auch Genossenschaften den Markt beherrschen. Und: »Abgerissen wird nicht mehr, und auch nicht zwangsgeräumt«.

Im Bereich der Energiewende entwirft Jarasch das Bild einer Zukunftsmetropole, die sich über »Nahwärmenetze, Mieter*innenstrommodelle, Heizpumpen und Balkonkraftwerke« selbst mit Strom und Wärme versorgt. Diesen Punkt betont auch Grünen-Co-Landeschef Philmon Ghirmai. Zwei Milliarden Euro wolle die Partei in den kommenden drei Jahren in die Hand nehmen, als »Wärmewende-Booster«. Dazu gehöre nicht nur der konsequente Ausbau der erneuerbaren Energien, sondern auch die energetische Gebäudesanierung. Die notwendigen Sanierungen dürften aber nicht finanziell auf die Mieter*innen abgewälzt werden. »Eine energetisch sanierte Wohnung ist kein Luxusgut«, sagt Ghirmai.

Auch beim Thema Verkehr setzt die Parteitagsregie auf die Kraft der Visionen. Bettina Jarasch will demnach eine grüne und entsiegelte Stadt mit flächendeckendem Tempo 30 und mehr Blitzern, guten öffentlichen Anbindungen am Stadtrand und ausschließlich emissionsfreiem Verkehr in der Innenstadt. Das Wort »autofrei« scheint sie bewusst nicht in den Mund nehmen zu wollen – im vergangenen Jahr hatte sich die Mobilitätssenatorin gegen das Anliegen des Volksbegehrens »Berlin autofrei« ausgesprochen. Das 29-Euro-Ticket gibt es in Jaraschs Vision als bundesweit geltendes Angebot für Bedürftige. »Und nicht nur bis Berlin AB«, distanziert sich Jarasch vom SPD-Vorschlag, zusätzlich zum 49-Euro-Ticket das eigene Hauptstadt-Angebot fortzuführen.

Auffallend wenig Seitenhiebe werden gegen die SPD ausgeteilt, man schießt sich vor allem auf die CDU ein. Etwa mit Blick auf die von der Union losgetretene rassistische Silvesterdebatte oder das Festhalten am Weiterbau der Stadtautobahn A100. »Seit vorgestern kennen wir die Pläne, und ich kann nur sagen: Die sind unterirdisch«, witzelt Co-Landeschefin Susanne Mertens über die CDU-Idee, die Autobahn zu überdachen, sie zu begrünen und dann »Klimaautobahn« zu taufen. Die verkehrspolitische Sprecherin im Abgeordnetenhaus, Antje Kapek, kündigt gleich mal an: »Bevor der Bauabschnitt der A100 gebaut wird, müsst ihr mich erstmal wegtragen.«

Die Parteispitze poliert das Klimaschützer*innen-Image, die Basis hingegen hadert angesichts der von den Grünen im Bund und in Nordrhein-Westfalen verteidigten Räumung des besetzten Dorfes Lützerath mit dem Großen und Ganzen. Einige Delegierte haben sich gelbe Kreuze, das Symbol der Besetzung, um den Hals gehängt oder ans T-Shirt gesteckt. »Wenn jemand sagt, Lützerath ist das falsche Symbol oder die falsche Protestform, kann ich nur antworten: Das ist die falsche Politik«, sagt Elina Schumacher vom Kreisverband Friedrichshain-Kreuzberg. Sie sei bei der Demonstration in Lützerath gewesen, danach hätte sie ganz generell an ihrer Parteimitgliedschaft und an dem Sinn der Landesdelegiertenkonferenz gezweifelt. Sie fordert von den Entscheidungsträger*innen eine Politik, die einer Klimaschutzpartei gerecht werde.

So unzufrieden ist die Basis dann aber doch nicht, jedenfalls nicht mit ihrer Kandidatin für den Chefinnensessel im Roten Rathaus: Jaraschs Rede erntet langen Applaus und stehende Ovationen.

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