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Sechs gegen Erdoğan
Ein Oppositionsbündnis will den türkischen Präsidenten ablösen, ist aber noch ohne offiziellen Gegenkandidaten
Rückblende: Es ist der Sommer 2019, in Istanbul werden die Lokalwahlen wiederholt. Seit Jahrzehnten regiert hier die AKP. Ekrem İmamoğlu von der CHP tritt erneut gegen Binali Yıldırım, den letzten Ministerpräsidenten der Türkei, an. Während İmamoğlu mit einem Bus durch den Bezirk Bakirköy fährt, rennt eine Gruppe Jugendlicher neben dem geöffneten Fenster, sie filmen den Bürgermeisterkandidaten mit ihren Handys. Einer von ihnen, der 16-Jährige Berkay Gezgin, ruft »Bruder Ekrem, her şey güzel olacak – alles wird gut!« und liefert den Wahlslogan für İmamoğlu, der kurz darauf die Wahl zum zweiten Mal gewinnt.
»Alles wird gut« ist seit vier Jahren das Versprechen der CHP – nicht nur für Istanbul, sondern für die gesamte Türkei. Damals lösten İmamoğlu in Istanbul und Mansur Yavaş in Ankara nach über 20 Jahren die AKP-Bürgermeister ab. Nun könnte ihre Partei auch die Zentralregierung übernehmen. Doch der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan und seine AKP kämpfen um ihren Machterhalt. Im Fall einer Niederlage stehen für sie nicht nur ihre politischen Ämter auf dem Spiel. Auch die Korruptionsvorwürfe gegen Parteipolitiker und andere Straftaten könnten dann vor Gericht gebracht werden. Um die Wahlen doch noch für sich zu entscheiden, fährt die AKP eine zweigleisige Strategie. Während der Druck auf die politische Konkurrenz erhöht wird, trifft die Regierung Entscheidungen, die vor allem der unteren Bevölkerungsschicht zumindest kurzfristig zugutekommen. So wurde der Mindestlohn zu Beginn des Jahres um 50 Prozent gegenüber Juli 2022 erhöht und für viele Arbeiternehmer*innen die Möglichkeit zur Frührente durchgesetzt. Ähnliche, punktuelle Zugeständnisse der AKP an die eigene Basis sind auch in den kommenden Monaten zu erwarten.
Die Lokalwahlen 2019 hätte die CHP nicht ohne die indirekte Unterstützung der linken HDP gewonnen. Durch ihre Entscheidung, keine eigenen Kandidat*innen aufzustellen, wurde die HDP zur Königsmacherin. Und auch jetzt sind die HDP und das von ihr geführte Bündnis für Arbeit und Freiheit wieder in einer entscheidenden Position. Werden sie einen dritten Präsidentschaftskandidaten aufstellen oder den bisher unbekannten Kandidaten des Oppositionsbündnissen unterstützen? Wird die HDP zu letzterem überhaupt in der Lage sein, angesichts des drohenden Parteiverbots, dass die Staatsanwaltschaft noch vor den Wahlen vor Gericht verfügen lassen will? In diesem Fall wäre eine Kandidatur der Abgeordneten über andere linke, legale Parteien möglich. Immer populärer wird die Arbeiterpartei der Türkei TİP, die aktuell mit vier Abgeordneten im Parlament vertreten ist. Deren Parteivorsitzender, Erkan Baş, sprach sich gegen eine*n dritte*n Kandidat*in aus, ebenso wie der inhaftierte ehemalige Co-Vorsitzende der HDP, Selahattin Demirtaş. Unter der HDP-Basis stieß die Ankündigung eine*r dritten Kandidat*in auf Zuspruch. Es wäre außerdem eine Möglichkeit, eigene politische Forderung an den Kandidaten der Opposition deutlich zu machen und dem führenden Bündnis politische Zugeständnisse abzuringen.
Die kommenden Monate stellen eine historische Phase in der Türkei dar. Nach über 20 Jahren Herrschaft der AKP und Recep Tayyip Erdoğans als Ministerpräsident sowie Präsident zeichnet sich erstmals die Möglichkeit eines Regierungswechsels ab. Wahlumfragen gibt es in der Türkei in rauen Mengen. Je nach politischer Einstellung der Betreiber des jeweiligen Meinungsforschungsinstituts liegt die eine oder andere Partei in Führung. Sie allein sind deshalb kein zuverlässiger Garant für die Prognosen. Doch der Unmut der Bevölkerung, vor allem mit den wirtschaftlichen Folgen der Regierungspolitik, ist in vielen Bereichen zu spüren. Führende Politiker aus der Zeit, in der die AKP auch in Europa als zuverlässige Partnerin für die Demokratisierung und wirtschaftliche Entwicklung des Landes gesehen wurde, haben die Seiten gewechselt. Ali Babacan, ehemaliger Außenminister und stellvertretender Ministerpräsident, sowie Ahmet Davutoğlu, einst AKP-Vorsitzender und Ministerpräsident bis 2016, sitzen heute im Bündnis der Opposition.
Nun hat Erdoğan den 14. Mai als Wahltermin verkündet – eine Entscheidung, die er juristisch betrachtet gar nicht treffen dürfte. Er sagte, er wäre zwar »erfreut, wenn das Parlament mit einer Dreifünftel-Mehrheit das Wahldatum auf den 14. Mai legen würde«, andernfalls würde er jedoch als Präsident die entsprechenden Schritte einleiten. Von dieser Entscheidung der Parlamentsmehrheit, die die AKP derzeit alleine nicht erreicht, hängt auch ab, ob Erdoğan selbst ein drittes Mal als Kandidat antreten darf. Die Verfassung sieht vor, dass dies nur im Fall vorgezogener Wahlen während der zweiten Amtszeit legal sei. Das von der CHP geführte Oppositionsbündnis erklärte in seinem Statement nach seiner letzten Sitzung vergangenen Donnerstag, die Türkei werde geführt von einer Regierung, die weder Recht noch Gesetz anwende. Solange das Parlament nicht entsprechend entscheide, könne Erdoğan nicht erneut als Kandidat antreten. »Dass der Präsident dennoch zum dritten Mal seine Kandidatur erklärt, ist ein weiteres dunkles Kapitel in der Geschichte unserer Demokratie. Wir erklären gegenüber der Öffentlichkeit, dass wir diese Disziplinlosigkeit gegenüber der Verfassung nicht hinnehmen werden«, hieß es von Seiten der Opposition. Gleichzeitig zeigte sie sich bereit und siegessicher für die kommenden Wahlen. Es wird wohl beim mündlichen Protest gegen die Missachtung der Verfassung bleiben. Das Bündnis hat angekündigt, am 30. Januar ein Papier zu veröffentlichen, in dem die gemeinsamen Leitlinien in neun Punkten aufgeführt werden. Es soll »beweisen, dass das Bündnis der Nation im Stande ist, die in jedem Bereich zunehmenden Probleme der Türkei zu lösen«.
Der sogenannte Sechsertisch, ein Bündnis aus sechs oppositionellen Parteien, gerät durch die Verkündung des Wahltermins unter Zugzwang. Nach wie vor hat das Bündnis keinen Kandidaten benannt, der gegen Erdoğan in der Präsidentschaftswahl antreten wird. Als Favoriten gelten nicht nur die Bürgermeister İmamoglu und Yavaş, vor allen anderen wird Kemal Kılıçdaroğlu, seit 2010 Vorsitzender der CHP, als Herausforderer Erdoğans erwartet. Für ihn spricht seine langjährige politische Erfahrung und wohl auch seine Unberührtheit von öffentlichen Skandalen. Im Gegenteil, nach seiner Ernennung zum Parteivorsitzenden wurde er in der nationalen und internationalen Presse auf Grund seiner ruhigen Art als »Gandhi Kemal« bezeichnet. Lange war er Direktor bei den staatlichen Sozialversicherungen, er ist die Symbolfigur eines Staatsbeamten. Bürgermeister İmamoglu hingegen wurde erst kürzlich zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt, deren Berufungsverfahren noch nicht abgeschlossen ist. Auch wenn der Prozess die Zustimmung unter der Bevölkerung für İmamoglu eher noch verstärkt hat, wird die Opposition vermutlich kein Risiko eingehen. Mansur Yavaş hingegen ist zwar auch für seine Politik in der türkischen Hauptstadt beliebt, war jedoch lange Mitglied der ultranationalistischen Partei MHP, weshalb gerade die Stimmen der kurdischen Bevölkerung für ihn nicht gewinnbar wären. Das Oppositionsbündnis hat nun angekündigt, im Februar seinen Kandidaten bekannt zu geben.
Doch auf wen auch die Wahl fällt, die Aufgabe ein Bündnis aus sechs sehr unterschiedlichen Parteien zu vereinen, ist keine einfache Herausforderung. Während das Oppositionsbündnis vor der Wahl noch durch das klare Ziel geeint wird, Erdoğan und die AKP an der Regierung abzulösen, ist die politische Entwicklung nach einem möglichen Sieg der Opposition schwer absehbar. In der Türkei gelten Koalitionsregierungen als traditionell instabil. Auch die AKP kam erst einmal ins Wanken, als sie nach der Wahl vom Juni 2015 auf einen Koalitionspartner angewiesen war. Dass sich eine stabile Regierung aus sechs Parteien gründen wird, während gleichzeitig die Befugnisse des Präsidenten wieder eingeschränkt werden, wäre ein Novum in der Türkei. Auch ebenjene Rolle als starke Führungsperson könnte Erdoğan in seiner Basis Pluspunkte verschaffen, die er gerade durch seine Interaktion in internationalen Konflikten erfolgreich verstärkt.
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