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- Autofreie Friedrichstraße
Ein Stück Utopie auf der Friedrichstraße
Die Rückkehr der Fußgängerzone erregt Opposition und Wirtschaftsverbände – dabei ginge noch mehr
Nun müssen die Autos wieder weg und die im November erst abmontierten Sitzbänke werden erneut aufgebaut: Die Friedrichstraße in Mitte ist zwischen Französischer und Leipziger Straße ab diesen Montag wieder Fußgängerzone – diesmal aber endgültig. Ziel ist es, »den alten Kern der Hauptstadt dauerhaft lebenswert, klimarobust und attraktiv für die Berlinerinnen und Berliner und ihre Gäste zu gestalten«, gab Mobilitätssenatorin Bettina Jarasch (Grüne) bekannt.
Nach einem knapp einjährigen Verkehrsversuch bis Herbst 2021 sprachen sich laut Mobilitätsverwaltung vier von fünf Passant*innen dafür aus, dass die Friedrichstraße autofrei bleiben soll. Die Aufenthaltsqualität sei durch bessere Luft, weniger Lärm und Unfälle verbessert worden. Nach dem Versuch wurde die Straße noch ein weiteres Jahr für Autofahrende gesperrt. Die Inhaberin eines Weingeschäfts in der parallel verlaufenden Charlottenstraße klagte dagegen und hatte Erfolg. Denn eine Sperrung ist laut Straßenverkehrsordnung nur aus Gründen der Sicherheit und Ordnung im Straßenverkehr, nicht aber aus städtebaulichen Motiven möglich, urteilte das Verwaltungsgericht. Daher musste der Abschnitt für knapp drei Monate wieder freigegeben werden, bis dessen Teileinziehung abgeschlossen und die rechtliche Lage somit eine andere war.
Carolina Achilles findet diese Gesetzeslage »skandalös«. Sie ist Autorin des Dossiers »Autofreie Städte« des Konzeptwerks Neue Ökonomie. Darin hat sie sich mit Maßnahmen beschäftigt, die Städte wie Berlin vom Pkw-Verkehr befreien könnten. Zu den größten Hürden gehöre das Bundesverkehrsrecht, das dringend reformiert werden müsste, damit nicht mehr der Verkehrsfluss, sondern Klima- und Artenschutz sowie Aufenthaltsqualität im Mittelpunkt stehen. Andernfalls sind den Ländern hinsichtlich vieler Mittel wie Tempo-30-Zonen die Hände gebunden.
Dennoch gebe es auch auf Landesebene Möglichkeiten, die Verkehrswende voranzutreiben. Das Berliner Mobilitätsgesetz sei bereits in der Hinsicht vorbildlich, dass es Nah- und Radverkehr in der Verkehrsplanung priorisiere, »aber das reicht nicht«, sagt Achilles. Bus und Bahn seien noch immer zu teuer, und bei der Barrierefreiheit gebe es zu viele Baustellen. Viel wichtiger, um den Autoverkehr zu reduzieren, seien allerdings Maßnahmen, die Autofahren unattraktiver machen, etwa durch höhere Parkgebühren.
Bislang zahlen Berliner*innen jährlich 10,20 Euro für einen Anwohnerparkausweis, der Senat strebt eine Erhöhung der Gebühren auf 120 Euro an. Immer noch zu wenig, findet Achilles mit Verweis auf andere europäische Städte. So zahle man in Amsterdam bis zu 920 Euro und in Stockholm sogar 1200 Euro im Jahr für eine solche Parkerlaubnis. Den Vorwurf, dass hohe Parkgebühren sozial ungerecht seien, weist Achilles zurück. Mehr als die Hälfte der Berliner*innen besitzt laut Statistischem Bundesamt gar kein Auto, vor allem die unteren Einkommensschichten nicht.
Ungerecht sei eigentlich, dass Städte für Autos statt für Menschen gebaut würden. »Autofahren gilt als Teil von Freiheit«, kritisiert Achilles. Das zeigt auch die Debatte um die autofreie Friedrichstraße, die in der vergangenen Woche Fahrt aufgenommen hat. Von einem »Irrweg«, »Bevormundung« und »Zwangssperrung« spricht Berlins CDU-Chef Kai Wegner. Von »wolkigen Absichtserklärungen« Robert Hikel, Vizepräsident der hiesigen Industrie- und Handeskammer.
Angriffsfläche bietet jedoch nicht die Verkehrsberuhigung an sich, sondern vermeintlich mangelnde gemeinsame Planung mit Anwohner*innen und Geschäftsinhaber*innen. »Niemand hat etwas gegen Fußgängerzonen. Wenn die Anrainer sie wünschen und sie in die strategische Verkehrsplanung im Kontext des gesamten Quartiers rund um den Gendarmenmarkt eingebettet sind. Beides trifft nicht auf die Friedrichstraße zu«, meint Robert Hikel. Genauso sieht es Björn Fromm, Präsident des Handelsverbands Berlin-Brandenburg: Es werde »ein gescheitertes Verkehrsprojekt realisiert, ohne dass ein umsetzbares Verkehrskonzept für die gesamte historische Mitte Berlins vorliegt«. Konstruktive Vorschläge seien nicht einbezogen worden. Senatorin Jarasch widerspricht: Es habe viele Gespräche mit Wirtschaftsverbänden sowie mit Wirtschaftssenator Stephan Schwarz (parteilos, für SPD) gegeben, darüber, wie die Friedrichstraße als Geschäftsstraße funktionieren soll. »Und wir waren uns immer einig, dass eine Umgestaltung des Stadtraums dabei eine Rolle spielen muss«, sagt Jarasch. Dass ihre Verwaltung die Straße aus dem übergeordneten Netz herausnimmt, sei schon im Stadtentwicklungsplan Mobilität in der vergangenen Legislatur festgelegt worden. Die Teileinziehung selbst liege in der Hoheit des Bezirks Mitte.
Auch solle die Friedrichstraße nicht ohne Verkehrskonzept autobefreit werden, sondern in die Neugestaltung der Stadtmitte von Leipziger Straße und Spittelmarkt über den Gendarmenmarkt bis hin zum Molkenmarkt eingebettet werden. Bereits seit November wird der Radverkehr durch eine neue Fahrradstraße in der Charlottenstraße geleitet, wodurch in der Friedrichstraße mehr Flächen für Fußgänger*innen, Gastronomie, Kunst und Kultur entstehen sollen. Ein Planungsbüro dient dafür als Anlaufstelle. IHK-Chef Robert Hikel sieht in diesen Nutzungen Hindernisse für den Lieferverkehr, obwohl Lieferzonen in den angrenzenden Querstraßen eingerichtet werden. Auch die Erreichbarkeit der dortigen Tiefgaragen sei gewährleistet, heißt es in einem Infoblatt. Und Jaraschs Sprecher Jan Thomsen versichert, dass es weiterhin einen Rettungsstreifen auf der Friedrichstraße geben wird.
Der Haken: Die Vorbereitungen für die mittelfristige Gestaltungsplanung sollen nun erst nach der Umwidmung erfolgen, nach der Wiederholungswahl am 12. Februar soll dafür ein Wettbewerb starten – unter Einbeziehung der Gewerbetreibenden. Doch die kurzfristige Ankündigung war laut Regierender Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) nicht im Senat abgestimmt. Giffey nannte die Aktion daher einen nicht durchdachten »Alleingang«. Handelsverbandspräsident Fromm befürchtet für Gewerbetreibende und Anrainer*innen »auf Jahre hinweg eine provisorisch gestaltete Fußgängerzone statt Planungssicherheit«.
»Man müsste Bilder kreieren, wie es anders sein könnte«, hält Carolina Achilles dem ihre Utopie entgegen: Straßen mit weniger Beton, Qualm und Lärm und dafür mehr Grün, Vögeln, Aufenthalts- und Begegnungsorten, auf der Kinder gefahrlos spielen können, ohne vom Auto überfahren zu werden. Sie glaubt, dass soziale Initiativen in dieser Hinsicht viel Druck machen können, zum Beispiel der Volksentscheid Berlin autofrei, der nicht nur einzelne Straßen, sondern den ganzen Bereich innerhalb der Ringbahn weitgehend von Autos befreien will, aber auch noch die rechtliche Hürde nehmen muss.
Exemplarisch für eine Initiative, die in Berlin bereits sehr viel erreicht hat, sei die der Kiezblocks, die in der Hauptstadt 16 Wohnquartiere ohne motorisierten Durchgangsverkehr durchgesetzt hat. Die Mobilitätsverwaltung arbeitet derzeit an einem Leitfaden zur Errichtung von Kiezblocks in ganz Berlin. Ziele dabei sind etwa mehr Aufenthaltsqualität, Verkehrssicherheit und die Vermeidung urbaner Hitzeinseln, wie Sprecherin Constanze Siedenburg mitteilt. Das zeigt, wie auch das Dossier »Autofreie Städte« deutlich macht, dass konkrete Schritte der Mobilitätswende einfach und in wenigen Jahren umsetzbar sind, wenn der politische Wille da ist. Kleine »Bausteine für Klimagerechtigkeit, die trotzdem transformativ sind«, wie Carolina Achilles sagt.
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