In der Schwebe gehalten

Seit Beginn des Krieges flüchten auch »Drittstaatler« nach Deutschland, die in der Ukraine lebten. Ein Lehrforschungsprojekt untersucht die Situation dieser Menschen, die meist aus afrikanischen oder asiatischen Ländern stammen

  • Juliane Karakayali und Stefanie Kron
  • Lesedauer: 7 Min.
Ein Geflüchteter aus der Ukraine bei seiner Ankunft am Berliner Hauptbahnhof, März 2021
Ein Geflüchteter aus der Ukraine bei seiner Ankunft am Berliner Hauptbahnhof, März 2021

Kurz nach Ausbruch des Angriffskrieges Russlands auf die Ukraine im Februar vergangenen Jahres, als hunderttausende Menschen aus dem Land fliehen mussten, wurden auch Berichte über rassistisch motivierte Übergriffe von Bahnpersonal, Busfahrer*innen und Grenzbeamten in der Ukraine, Polen und Deutschland auf Geflüchtete of color bekannt. Diese kommen zumeist aus afrikanischen und asiatischen Ländern und hatten zum Zeitpunkt des Kriegsbeginns in der Ukraine studiert oder gearbeitet. Sie wurden am Betreten der Züge und Busse gehindert, die aus der Ukraine herausführten, mussten länger an den Grenzen warten oder es wurde ihnen sogar der Grenzübertritt verwehrt. Sie erhielten oft auch keine Versorgung mit Lebensmitteln und Unterkunft oder wurden offen rassistisch beschimpft und tätlich angegriffen. Fast ein Jahr später ist es ruhig geworden um diese Gruppe von Geflüchteten, Medien berichten kaum noch. Und in Hamburg werden dieser Tage bereits – ohne großes öffentliches Aufsehen – zahlreiche Ausreiseverfügungen an aus der Ukraine geflüchtete Drittstaatler*innen versendet.

Die Autorinnen

Juliane Karakayali ist Professorin für Sozio­logie an der Evangelischen Hochschule Berlin. Derzeit leitet sie ein BMBF-gefördertes Forschungsprojekt zu »Beschwerden über Rassismus in der Schule« und ist Mitglied im Rat für Migration.

Stefanie Kron ist Professorin für Soziale Arbeit mit Schwerpunkt empirische Sozialforschung an der Evangelischen Hochschule Berlin. Sie forscht zu Migration und solidarischer Stadtpolitik und ist Mitgründerin sowie Co-Autorin der Moving Cities Map (moving-cities.eu/de).

Beide Autorinnen sind Mitherausgeberin des Online-Journals »Movements« (movements-journal.org).

In den ersten Monaten des Krieges wurde viel über die großzügigen Aufenthaltsregelungen für aus der Ukraine Geflüchtete und die große Hilfsbereitschaft in Deutschland berichtet. Die sogenannte Massenzustromrichtlinie, die 2001 EU-weit verabschiedet worden war, wurde im März 2022 erstmals in Kraft gesetzt. Ukrainische Staatsbürger*innen sowie Drittstaatler*innen mit unbefristetem Aufenthaltstitel in der Ukraine erhielten damit statt des langwierigen und entrechtenden Asylverfahrens unbürokratisch einen »vorübergehenden Schutzstatus« in Deutschland und den anderen EU-Mitgliedsstaaten. Dieser dauert bis zu drei Jahre und ermöglicht den Zugang zu Sozialsystem und Arbeitsmarkt, Bildung und Sprachkursen.

Rechtlich hätte die Möglichkeit bestanden, alle Ukraine-Geflüchteten in die Richtlinie aufzunehmen. Jedoch wurden Drittstaatler*innen mit befristetem Aufenthaltstitel in der Ukraine, darunter 75 000 internationale Studierende mit afrikanischen oder asiatischen Staatsbürgerschaften, durch Vetos der slowenischen, österreichischen und polnischen Regierungen aus den Regelungen der Massenzustromrichtlinie ausgeschlossen – obgleich sie vor demselben Krieg geflohen sind.

Zweimal wurde für alle Geflohenen aus der Ukraine der visumfreie Aufenthalt von 90 Tagen um weitere 90 Tage verlängert – sowie unter anderem in Berlin nochmals um 90 Tage zum Zwecke der Erfüllung der Voraussetzungen für die Beantragung eines Aufenthaltstitels. Nun droht, Ende Januar 2023, auch in Berlin zahlreichen, aus der Ukraine geflohenen Drittstaatler*innen die Abschiebung in ihre Herkunftsländer.

Forschungsprojekt »Solidarische Stadt«

Im Rahmen des Lehrforschungsprojekts »Solidarische Stadt«, das wir mit zwölf Studierenden der Sozialen Arbeit an der Evangelischen Hochschule Berlin seit April vergangenen Jahres über 10 Monate durchgeführt haben, fand eine eingehende Beschäftigung mit der Situation geflüchteter Drittstaatler*innen of color in Berlin statt. Wir wollten zum einen herausfinden, welche Erfahrungen die aus der Ukraine geflüchteten Menschen of color bei der Ankunft in Berlin mit den Unterstützungsstrukturen, Nothilfeprogrammen und Behörden gemacht haben und worin die größten Herausforderungen und Probleme bestehen. Zum anderen interessierte uns der Blick der hauptamtlichen Mitarbeiter*innen des Vereins Communities Support for BIPoC Refugees Ukraine (CUSBU) auf ihren Berufsalltag. Der Verein hatte sich kurz nach Ausbruch des Krieges speziell zur Unterstützung von Geflüchteten of color gegründet und wird von der Berliner Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales finanziert. Nicht zuletzt wollten wir das Nothilfeprogramm von CUSBU auch praktisch unterstützen.

Während des Sommersemesters 2022 halfen die Studierenden deshalb im Projektbüro von CUSBU oder am Infostand des Vereins am Berliner Hauptbahnhof aus. Sie unterstützten das hauptamtliche Team unter anderem beim Putzen, Kochen und der Essensausgabe, bei der Registrierung und Beratung der Hilfesuchenden. Die Studierenden begleiteten Geflüchtete auch bei Amtsgängen und fertigten über ihre Einsätze Beobachtungsprotokolle an. Im Juli und August führten sie zusätzlich Interviews mit drei hauptamtlichen Mitarbeiter*innen von CUSBU sowie mit zehn von CUSBU betreuten Drittstaatler*innen of color durch, die als internationale Studierende und Arbeitsmigrant*innen in der Ukraine einen befristeten Aufenthaltstitel innehatten. Darunter waren drei Personen aus Kenia, zwei Personen aus Nigeria sowie jeweils eine Person aus dem Irak, aus Ägypten, Sambia, Simbabwe und Algerien.

Institutioneller Rassismus in Berlin

Die anschließende Auswertung der Beobachtungsprotokolle und Interviews im Wintersemester lieferte uns erschreckende Einblicke in den Umgang der Berliner Behörden mit den aus der Ukraine Geflüchteten of color. Die Massenzustromrichtlinie kann als politische Metastruktur gesehen werden. Sie unterteilt die Geflüchteten in verschiedene Statusgruppen und gibt damit den rechtlichen Rahmen vor für die Ungleichbehandlung von einerseits ukrainischen Staatsbürger*innen (beziehungsweise Menschen, die mit einem unbefristeten Aufenthaltstitel in der Ukraine lebten), sowie aus der Ukraine geflüchteten Drittstaatler*innen mit befristetem Aufenthaltstitel andererseits.

Diese diskriminierende Ungleichbehandlung setzt sich im Kontakt der Berliner Behörden mit den Drittstaatler*innen of color von Beginn an fort. Wir haben unsere empirischen Befunde deshalb mit aktuellen theoretischen Debatten um institutionellen Rassismus verbunden. Dabei richteten wir den Blick darauf, wie sich Rassismus als soziale Struktur in Organisationen und Institutionen, wie etwa im Bildungs- und Gesundheitssystem, bei der Polizei oder eben in städtischen Verwaltungen widerspiegelt.

Als wiederkehrende Praktiken des institutionellen Rassismus benennt beispielsweise die Autor*innengruppe um Alexandra Graevskaia sowie Tobias Neuburger und Christian Hinrichs folgende Punkte: die restriktive Bearbeitung von Anträgen aufgrund der Unterstellung einer unangemessenen Anspruchshaltung, der Ausnutzung des Sozialsystems oder krimineller Motivation; die Ablehnung von Sozialleistungsansprüchen auf kommunaler Ebene; die Schaffung von Nicht-Zuständigkeit auf Seiten der Behörden; das Abwarten und Hinauszögern der Leistungsgewährung mit dem Ziel, dass die Antragsteller*innen aus dem Zuständigkeitsbereich der Behörde verschwinden sowie nicht zuletzt der fehlende Umgang mit Mehrsprachigkeit. Letzteren verstehen Neuburger und Hinrichs als Mittel der unmittelbaren rassistischen Diskriminierung, weil Menschen durch das Beharren der Behörden auf Deutsch als Verkehrssprache unfähig gemacht werden, ihre Rechte wahrzunehmen.

Was sagen die Betroffenen?

In den Interviews mit den Geflüchteten konnten wir Aussagen über alle genannten Praktiken des institutionellen Rassismus finden. In diesem Kontext ist es wichtig zu betonen, dass sich zunächst alle aus der Ukraine geflüchteten Menschen mindestens 90 Tage ohne Visum und Aufenthaltstitel in Deutschland befanden und Anrecht auf Leistungen nach Asylbewerberleistungsgesetz hatten beziehungsweise haben. Die letzte regelhafte Verlängerung des visumfreien Aufenthalts in Berlin endet mit dem 31. Januar 2023.

So wurden einige der Interviewten bereits während des visumfreien Aufenthalts zwischen verschiedenen Ämtern der Bezirke hin und her geschoben, weil sich niemand für ihre Anliegen verantwortlich erklärt. Auch wurden Anträge auf Sozialleistungen teils sehr lange nicht bearbeitet oder – rechtswidrig – sofort abgelehnt. Zudem wurden ohne rechtliche Grundlage Pässe einbehalten oder Dokumente verlangt, die für Sozialleistungen im Rahmen des visumfreien Aufenthalts nicht erbracht werden müssen. Einige Befragte wurden sogar aufgefordert, inmitten der Kriegshandlungen in die Ukraine zurückzureisen, um ebenfalls nicht erforderliche Dokumente zu beschaffen. In anderen Fällen wurden Geflüchtete of color noch vor Ablauf des visumfreien Aufenthalts ins Asylverfahren geschickt, was den Erwerb eines anderen Aufenthaltstitels unmöglich macht.

Außerdem berichten die Interviewten von Intransparenz und mangelnder Aufklärung über ihre Rechte und die notwendigen behördlichen Schritte. Ein weiteres häufig angesprochenes Problem ist der Umgang der Behörden mit den Sprachkenntnissen der Geflüchteten. Während Informationsmaterial für Geflüchtete auf Ukrainisch in Berlin sehr schnell vorlag, trafen unsere Interviewpartner*innen auf Behördenmitarbeiter*innen, die kaum oder kein Englisch sprachen oder sich schlicht weigerten, Englisch zu sprechen. Auch Informationsmaterial auf Englisch gibt es bis heute kaum, obwohl die von uns befragten Drittstaatler*innen zwar mehrheitlich kaum Ukrainisch, dafür aber sehr gut Englisch sprechen.

Die Geflüchteten erleben ihre Situation auch viele Monate nach ihrer Ankunft in Berlin daher als Schwebezustand, der von Unklarheit und Unsicherheit geprägt ist, wie es mit ihnen weitergeht. Sie sehen sich blockiert bei der Suche nach Arbeit, einer Wohnung, Deutschkursen oder einem Studienplatz, um ihr in der Ukraine angefangenes Studium zu beenden.

Warum die Sonderregeln?

Die Ergebnisse der Interviews mit den Geflüchteten decken sich mit den Beobachtungen der Studierenden sowie mit den Berichten der hauptamtlichen Mitarbeiter*innen von CUSBU, die das Nothilfeprogramm des Senats als mangelhaft ausgestattet wahrnehmen. Letztere sind oft gezwungen, sich über ständig ändernde rechtliche Regelungen zu informieren oder sogar mit Unterstützung von Rechtsanwält*innen bei den Behörden die wenigen Rechte durchzusetzen, die aus der Ukraine geflüchtete Drittstaatler*innen haben.

Für unsere Lehrforschungsgruppe bleibt die Frage bleibt offen, warum sich der Berliner Senat dafür entschieden hat, für eine kleine Gruppe Geflüchteter – CUSBU berichtet von etwa 4000 Geflüchteten of color, die der Verein seit März 2022 betreut habe – intransparente Sonderregeln zu schaffen, die zur Abschiebung vieler hoch motivierter junger Menschen zu führen drohen. Dies erstaunt insbesondere auch deshalb, weil die Stadt Berlin seit 2018 in mehreren Städte-Netzwerken aktiv ist, wie etwa im EU-weiten »Solidarity Cities«Bündnis und im bundesdeutschen Städtenetzwerk der »Sicheren Häfen«, die für eine humanere und solidarische städtische Migrationspolitik eintreten.

Der gesamte Bericht zum Lehrforschungsprojekt kann heruntergeladen werden unter www.eh-berlin.de.

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