- Politik
- Linke und Ukraine-Krieg
Es kann nur eins gelten: Krieg dem Kriege!
Hat der russische Überfall auf die Ukraine der Linken das Genick gebrochen?
Hat der russische Überfall auf die Ukraine der Linken das Genick gebrochen? Dass das so sei, behauptet der spanische Buchautor Raúl Sánchez Cedillo (»Der Krieg endet nicht in der Ukraine«) in einem in der österreichischen Zeitschrift »Tagebuch« (Dezemberausgabe) dokumentierten Gespräch mit dem Mitbegründer und ehemaligen Generalsekretär der spanische Linkspartei Podemos, Pablo Iglesias. Vieles spricht dafür, dass es stimmt. Wenig wirklich Konstruktives hört man über Ursachen, Gründe und Überwindung.
Im »nd.DerTag« vom 12. Januar 2023 sagt uns Cornelia Hildebrandt, Co-Präsidentin von Transform europe, der Stiftung der europäischen Linken, dass die europäischen Linksparteien, die sich in der sozialen Frage weitgehend einig sind, »in den außenpolitischen Fragen, vor allem mit Bezug auf den Krieg in der Ukraine« gespalten agieren. Sie will Ursachen aufzeigen, kommt aber kaum über die Feststellung hinaus, dass geografische Lage und Geschichte der verschiedenen Länder auch deren Linksparteien zu höchst unterschiedlichen Positionierungen in der Frage des Krieges Russlands gegen die Ukraine kommen lassen. Sie wagt den vorsichtigen Schluss in Form einer für sie offenen Frage, ob »sich die relativ schwachen Linken in Finnland, dem Baltikum und Polen gegen die neuen Formen eines transnationalen Patriotismus mit nationalistischen Öffnungen wehren können«.
Prof. Peter Porsch, Jahrgang 1944, ist Germanist und hatte von 1988 bis 2005 an der Universität Leipzig Professuren für Sprachtheorie und Sprachsoziologie bzw. für Dialektologie und Soziolinguistik inne. Von 1990 bis 2009 war er als Politiker der PDS bzw. der Linkspartei aktiv, vor allem in Sachsen.
Die Frage enthält einen wichtigen Hinweis, der für die Stellungnahme aller europäischen Linksparteien von grundsätzlicher Bedeutung ist: den Hinweis auf die für Linke wohl ungeklärte Rolle von Nation und Nationalismus sowie darin eingebunden die Stellung zu Krieg und Frieden. Um das einer Klärung anzunähern, muss man zunächst weit ausholen.
Sánchez meint, dass nicht so sehr der Zweite Weltkrieg Möglichkeiten zu Erkenntnis fördernden Analogien hergibt, sondern vielmehr der Erste Weltkrieg. Es sei zum Beispiel wie beim Ersten Weltkrieg ausschlaggebend »für das Verständnis des aktuellen Krieges in der Ukraine … der moralische Hochmut, mit dem beide Seiten den Krieg als zivilisatorischen Kreuzzug ausgeben«. Es wurde und wird »unverhohlen militaristisch agiert und ein bedingungsloser Sieg gefordert«. Er konstatiert vergleichbaren »fanatischen Nationalismus« und »die Darstellung des Pazifismus als Agent der gegnerischen Seite«.
Sicher ist es deshalb nützlich, sich zunächst mit Quellen dieses Nationalismus zu beschäftigen. Sie dienten erstens der ausnahmslosen sowie widerspruchs- und ausweglosen Vereinnahmung aller Bürgerinnen und Bürger des jeweiligen Nationalstaates unter dessen Interessen und zweitens der argumentativen Absicherung der moralischen Überlegenheit der jeweils eigenen Nation. Hermann Kellermann gibt 1914 in seinem Buch »Der Krieg der Geister. Eine Auslese deutscher und ausländischer Stimmen zum Weltkrieg«, einen umfassenden Überblick für alle am Krieg beteiligten Länder. Für Deutschland soll hier eine kurze Auseinandersetzung mit dem damals einflussreichen Völkerpsychologen Wilhelm Wundt stehen, der am 10. September 1914 in Leipzig die Rede »Über den wahrhaften Krieg« hielt.
Eine Nation ist für Wundt in ihrer Einheit durch ihre gemeinsame Sprache und das darin dokumentierte einheitliche Denken begründet: In den Vorstellungen und Affekten des individuellen Bewusstseins haben »triebartige Bewegungen« ihre Quellen. Diese werden zur Sprache, »indem sie in einer Gemeinschaft entstehen, deren Glieder unter den nämlichen äußeren und inneren Bedingungen leben, so daß die Gefühle und Vorstellungen, die der eine in sich findet, auch dem anderen nicht fehlen, und daß die Lautbewegung, zu welcher Wahrnehmungen und Affekte den ersten antrieben, dem Ohr des Zweiten ein unmittelbar verständlicher Ausdruck des gemeinsam Erlebten ist«. Dieser »psycho-physische Parallelismus« hat für Wundt eine experimental-psychologische Grundlage.
In seiner Rede fügt Wundt aber etwas Entscheidendes hinzu. Es sei der begonnene Krieg ein »wahrhafter Krieg«, »weil ein Volk einen solchen führen muss« – und er meinte natürlich das deutsche Volk – wenn es »äußere Gewalt … Neid und Missgunst anderer Völker« daran hindern, »seine Kräfte in den Dienst der allgemeinen menschlichen Kulturarbeit zu stellen und so zu seinem Teile auf den ihm durch Natur und Geschichte angewiesenen Gebieten die Pflichten, die ihm in der Kulturgemeinschaft der Völker auferlegt sind, erfüllen kann«. Und weiter: »… ein Volk, das sich gegen diesen Angriff wehrt, kämpft einen Kampf nicht um vergänglicher Vorteile willen, es kämpft für alle künftigen Geschlechter, ja es kämpft ihn – das ist das Größte und Gewaltigste an diesem Völkerkampf – für die Menschheit und damit schließlich selbst für die Völker, die ihm heute als Feinde gegenüberstehen.« Eine dem Anlass gemäße werteorientierte Außenpolitik war begründet und in den Stein der unauflösbaren nationalen Gemeinsamkeit gemeißelt. Das Kriegsziel ist definiert: »Wir werden siegen, denn wir müssen siegen. Nicht die unerschöpflich scheinenden russischen Horden, nicht die seegewaltigen englischen Schiffe dürfen uns schrecken.«
Platte Analogien sollte man vermeiden. Analogien verbieten sich jedoch nicht schon deshalb, weil Feinde und Bewaffnung austauschbar sind. Interessant ist vielleicht die Konstante Russland. Ein ungezügelter Nationalismus konnte jedenfalls fröhliche Urstände feiern und alles war ihm zu unterwerfen und natürlich auch alle. Wir finden das heute auf allen Seiten wieder.
Was kann und muss man nun von links entgegensetzen? Ganz am Anfang sollte natürlich die Feststellung gelten, dass es sich beim Krieg Russlands gegen die Ukraine genauso wie beim Ersten Weltkrieg um einen nationalistisch untersetzten Krieg imperialistischer Mächte bzw. Mächtegruppierungen handelt. Der Krieg hat Klassencharakter! Das kann gerade Nationalismus nicht verdecken, wenngleich das seine Funktion ist.
Hat man erst den imperialen Klassencharakter des Krieges erkannt, kann streng genommen nur mehr die Berücksichtigung einer klassenbedingten Interessenverteilung zu einer politisch gültigen, linken Positionierung zum Krieg führen. Mag noch vom unmittelbaren Anfang her eine naive Parteinahme dem Muster für oder gegen Angreifer und Angegriffene folgen können, so ist eine jegliche Eskalation des Krieges den Interessen der nicht dem jeweiligen nationalen Imperialismus zugewandten Klassen, Gruppen und Milieus abgewandt. Es ist also müßig, über irgendwelche Arten der Unterstützung irgendeiner Seite in der Kriegsführung auch nur nachzudenken. Es kann nur gelten: Die Waffen nieder! Krieg dem Kriege!
Sánchez löst die vorgeblich nationale Einheit auf und fordert »eine Verbindung zwischen Widerstand gegen den Krieg, inklusive Gehorsamsverweigerung, Desertion und Sabotage, mit den gewerkschaftlichen, feministischen, LGBTIQ-, antikolonialen, antifaschistischen und ökologischen Kämpfen genauso wie mit den Mobilisierungen im Bildungs- und Gesundheitswesen. Das würde eine vielfältige, aber zugleich konvergierende Bewegung erzeugen.« Er fügt an, dies könnte »eine allgemeine soziale Erhebung nach sich ziehen und in … der EU und hoffentlich auch in Russland neue Formen der ›Volksmacht‹ schaffen«.
Welche und welcher Linke möchte auf eine solche Perspektive verzichten? Dennoch ist Sánchez’ Forderung unter Linken nicht allgemein. Einigt man sich auf den hier angeführten Klassencharakter des Krieges, darf der Widerstand dennoch nicht vereinfachend auf Widerstand gegen Klasse(n)interessen reduziert werden, weil damit zumindest einige Gruppen, die Sánchez meint, für den Einsatz für den Frieden unwichtig werden könnten, obwohl auch ihre, zunächst gegenüber den Klassenverhältnissen hintangestellten Emanzipationsbestrebungen schlussendlich auf die Klassenverhältnisse zurückzuführen sind. Sánchez spricht nicht von »skurrilen Minderheiten«, sondern von relevant gesellschaftskritisch agierende Subjekten, wenn für sie auch Gesellschaftsveränderung im Sinne der klassenkämpferischen Herstellung von Volksmacht nicht mitgedacht ist.
Menschen haben Identitäten und leben mit und in Identitäten, in denen sich ihr wirklicher Lebensprozess, sofern er unmittelbar empirisch erfahrbar ist, ausdrückt. Mag sein, dass ihnen darin »ihre Verhältnisse wie in einer Camera obscura auf den Kopf gestellt erscheinen«, wie Karl Marx und Friedrich Engels in »Die deutsche Ideologie« schrieben. Mag sein, dass in diesen Gruppen keine ausgeführten oder vollständigen Auffassungen von der »gesellschaftsverändernden Mission der Arbeiterklasse« bestehen. Dennoch geht auch ihr »bewusstes Sein« aus ihrem historischen Lebensprozess hervor. »Identität« als eine Existenzweise des »bewussten Seins« ist ebenso vom Leben bestimmtes Bewusstsein wie Klassenbewusstsein, allerdings gebrochen durch die gruppenspezifische Dialektik des Bewusstwerdens, in der die gedankliche Verarbeitung der jeweils spezifischen Situation Einfluss nimmt auf die Qualität des Erkennens des »wirklichen Lebens«.
Identität ist also eine empirisch gewonnene Kategorie. Klasse ist hingegen – zumal in modernen, stark mikro-sozial differenzierten Gesellschaften – eine analytische Kategorie, die in ihren Merkmalen und Funktionen erst durch erweiterte Abstraktionen aus dem wirklichen Lebensprozess gewonnen werden kann. So ist dann auch Klassenbewusstsein nicht aus unmittelbarem Erleben abzuleiten. Es ist deshalb Unsinn, Identität und Klasse als sich ausschließende Begrifflichkeiten zu verstehen. Das hieße, auf ein emanzipatorisches Widerstandspotenzial zu verzichten. Identität prägende Gruppe und Klasse gehen in einem aufsteigenden Abstraktionsprozess vom wahrgenommenen Erleben zum analytischen Erkennen ineinander über.
Dies zu akzeptieren und zu beachten ist eine unverzichtbare Voraussetzung für erfolgreiche linke Antikriegspolitik. Lässt man es außer Acht, so geht es Linken wie anderen: Sie landen zu früh als Sympathisant*innen auf einer der Krieg führenden Seiten. Den Krieg selber vermögen sie so nur als Krieg zu beeinflussen.
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