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Rufe nach einer Polizeireform
In den USA führen die rassistischen Morde zu anhaltenden Diskussionen
Folgenlos bleibt der gewaltsame Tod des Schwarzen Tyre Nichols nicht. Die Polizei von Memphis im US-Bundesstaat Tennessee hat inzwischen sechs Beamte entlassen, weil sie gegen interne Vorschriften verstoßen haben. Im Fall des doppelt beinamputierten Afro-Amerikaners Anthony Lowe lassen Konsequenzen noch auf sich warten. Er wurde durch die Polizei in Los Angeles erschossen wenige Tage nach der brutalen Ermordung von Tyre Nichols auf den Straßen von Memphis. Nun werden wieder Rufe nach einer Polizeireform laut. Seit dem Mord an George Floyd vor fast drei Jahren ist das Bewusstsein über die Auswüchse der Polizeigewalt zwar gewachsen, eine Lösung des Problems aber noch nicht gefunden.
An Ansätzen für eine Polizeireform fehlte es in den vergangenen Jahren nicht. Bittere Ironie ist, dass diese Reformen oft zu Verschlimmerungen führen. Los Angeles und Memphis sind seit über zehn Jahren Pioniere bei den Experimenten mit der »vorausschauenden« Polizeiarbeit. Mittels technologischer Wundermittel – ursprünglich Software von IBM – sollten Polizisten mit Mitteln ausgestattet sein, Verbrechen im Voraus zu bekämpfen. Dafür zahlen die Städte viel: Los Angeles hat wohl seitdem mehr als 20 Millionen Dollar für datenverarbeitende Algorithmen allein an die von dem rechten Unternehmer Peter Thiel gegründete Firma Palantir ausgegeben.
Nach anfänglichen, vermeintlichen Erfolgen solcher Software wurde die US-Polizei mit den Folgen der Pandemie konfrontiert, als Mordfälle und Waffengewalt grassierten. Es war die Zeit für Sondereinheiten wie »Scorpion«, die im Spätjahr 2021 in Memphis ins Leben gerufen wurden und der 40 Offiziere angehörten. Unter der Führung der ersten afroamerikanischen Polizeichefin der Stadt, Cerelyn Davis, sollten diese Offiziere in Problemvierteln beherzt eingreifen, den Kriminellen Waffen und Autos wegnehmen. In Memphis gab es im Jahr 2021 346 Morde; in New York, das 13 Mal so groß ist, weniger als 500. Besonders störten die Polizeichefin die illegalen Autorennen in Memphis: regelmäßig besetzten die Stuntfahrer die Autobahnen und drehten ihre Runden. So gab es auch unter Afroamerikanern die Hoffnung, dass die Scorpion-Offiziere die Lage in den Griff bekommen würden. Doch es kam anders. Die brutalen Schläge der fünf Polizisten gegen Tyre Nichols führten zur Auflösung der Einheit. Damit haben in Memphis sowohl die vorausschauende Polizeiarbeit als auch die Sondereinheit versagt.
Vorausschauende Polizeiarbeit bedeutet, dass Armenviertel noch mehr und noch sinnloser überwacht werden. Die Algorithmen verstoßen brutal gegen die Annahme der Unschuld des Einzelnen. Jeder Bewohner in einem Problemviertel wird nun öfter und stärker erfasst, durch immense Informationsströme, die nicht durch einen Polizisten, sondern durch Algorithmen interpretiert werden. Weil das nicht reicht, um Kriminalität zu verhindern, wird den Polizei-Einheiten mehr Gewalt gestattet. Auch waren diese Einheiten in Memphis meist in Zivil unterwegs. In New York hat der Bürgermeister Eric Adams zwar solche Sondereinheiten wieder ins Leben gerufen, nachdem sein liberaler Vorgänger Bill de Blasio sie aufgelöst hatte – aber auf einer Reform bestand Adams dennoch: Die Polizisten müssen in Uniform unterwegs sein.
In Memphis war die Hauptbeschäftigung der Eingreiftruppe das Anhalten von Autos, und zu 90 Prozent wurden diese Autos von jungen, schwarzen Männern gefahren. Die Eskalationsgeschwindigkeit war berüchtigt: Ein Bürger wurde gestoppt, und dann stürmten die Offiziere aus ihren Wagen. Nur konnten die Opfer dieser Methoden nie sicher sein, mit wem sie es zu tun hatten, denn die Polizisten waren nicht zu erkennen, sie sahen aus wie eine enorm aggressive Gruppe. Das machte Angst und führte unweigerlich zu Fluchtversuchen wie im Fall von Nichols. Etliche junge Männer erzählen solche Geschichten aus Memphis. Nur Tyre Nichols war anders; er hatte die schwere Krankheit Morbus Crohn. Obwohl er fast zwei Meter lang war, war er extrem schlank und bekam schnell innere Blutungen. Mag sein, dass die meisten jungen Schwarzen in Memphis robuster sind, Tyre Nichols war es nicht. 20 Minuten hat es gedauert, bis die angekommenen Notfallsanitäter sich ernsthaft mit ihm beschäftigt haben; die Hilfe kam zu spät.
Manchmal ist vorausschauende Polizeiarbeit einfach lächerlich. Zum Beispiel wenn ein 15-jähriger Junge in Pasco County, Florida, Fahrräder aus einem Schuppen klaut und in den nächsten fünf Monaten 21 Mal von der Polizei besucht wird, und zwar vorbeugend. Die Florida-Zeitung »Tampa Bay Times« berichtet, dass einer Mutter von einem so häufig besuchten Kind ein Strafgeld von 2500 Dollar aufgebrummt wurde, weil die Polizei die freilaufenden Hühner in ihrem Garten mitbekamen, was gegen die Vorschriften verstößt. Ein anderer Vater wurde verhaftet, weil ein Polizist beim Besuch den 17-jährigen Sohn beim Zigarettenrauchen durchs Fenster beobachtet hat. Rauchen ist erst ab 18 erlaubt. Polizeilicher Übereifer bedeutete für den amputierten Anthony Lowe in Los Angeles den Tod durch Polizeikugeln: Lowe hatte mit einem Messer einen 46-jährigen Mann niedergestochen, ohne lebensgefährliche Folgen. Lowe verlor vergangenes Jahr beide Beine, laut seiner Familie bei einem Vorfall mit der Polizei in Texas. Diese Woche wollte er seine Prothesen abholen. Dazu kommt es nicht mehr. US-Amerikaner sind ein Volk der Haudegen, mit dem Motto: Viel hilft viel. Bei Polizeiarbeit wird dieses Motto ad absurdum geführt.
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