- Berlin
- Erdbeben Türkei und Syrien
Spenden sammeln ohne Staat
Die Solidarität mit den Erdbebenopfern ist riesig, kurdische Organisationen setzen auf Geldspenden
Der kleine Infostand am Alexanderplatz fällt kaum auf im geschäftigen Treiben am Mittwochmittag. Ausgestattet mit einer Fahne des Kurdischen Roten Halbmondes Heyva Sor und einigen Infozetteln wird er durch die Aktivist*innen hervorgehoben, die in leuchtenden Warnwesten Passant*innen um Unterstützung bitten. Das Bild steht im Kontrast zu den vielen Orten in Berlin, an denen bergeweise Sachspenden für die Erdbebenopfer in der Türkei und in Syrien gesammelt werden. »Wir müssen uns selbst organisieren, ohne die Unterstützung des Türkischen Konsulats«, sagt Mert Özkaraman zu »nd«. Wie viele andere Kurd*innen befürchtet er, dass Spenden über den türkischen Staat ungleich verteilt und die kurdisch besiedelten Gebiete vernachlässigt werden. Deshalb sammeln die Aktivist*innen Geldspenden für Heyva Sor.
Das Vorgehen ist mit verschiedenen Gruppen in Berlin abgestimmt. »Wir haben einen Erdbebenkrisenstab mit kurdischen Menschen, Aktivist*innen und Organisationen eingerichtet«, sagt Ismail Parmaksiz von der Freien Kurdischen Gemeinde zu »nd«. Dort habe man sich gegen das Sammeln von Sachspenden entschieden. »Die Hilfsgüter, die in der Türkei ankommen, werden vom Staat verteilt. Wir glauben, dass sie nicht bei allen Betroffenen ankommen«, sagt Parmaksiz.
Kurdischer Roter Halbmond (Heyva Sor):
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Spendenstichwort: Nothilfe Erdbeben
Gerade in Syrien ist die Situation aktuell schwierig. Das kurdische Autonomiegebiet Rojava im Nordosten des Landes ist auch vom Erdbeben betroffen, aber durch die politische Situation schwer zu erreichen. Gleichwohl gebe es auch türkisch besiedelte Gebiete in der Türkei, die nach wie vor auf Hilfe warten und auf Unterstützung von außen angewiesen sind. »Wir sammeln, so viel wir können, für alle, egal ob türkisch oder kurdisch«, sagt Parmaksiz. Der Spendenaufruf an Heyva Sor werde bundesweit verbreitet, in Berlin könne man außerdem tagsüber in der Residenzstraße 54 in Reinickendorf vorbeikommen, um zu spenden und mitzuhelfen. »Wir brauchen noch mehr Unterstützer*innen für die Infostände«, so Mert Özkaraman.
»Der Kurdische Rote Halbmond hat Helfer*innen vor Ort, so können die Leute erreicht werden, die von den staatlichen Hilfen weniger erreicht werden«, sagt Müslüm Örtülü vom kurdischen Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit Civaka Azad zu »nd«. Sowohl die kurdischen Gebiete in der Türkei, die vom türkischen Staat strukturell vernachlässigt werden, als auch die in Syrien, die im Norden vom türkischen Regime und im Süden vom Assad-Regime von Transportwegen abgeschnitten werden, bräuchten zusätzliche Unterstützung.
Derweil läuft die Spendenkampagne in der türkischen Community in der Hauptstadt ebenfalls auf Hochtouren, überall gibt es Orte, an denen Sachspenden abgegeben werden. In der Kreuzberger Bergmannstraße vor dem Konservatorium für türkische Musik spielen sich am Dienstagabend besonders chaotische Szenen ab. Der Gehweg ist voll von Menschen, die mit Kartons, Tüten und Koffern beladen sind. Auch im Hof des großen Gebäudes wimmelt es voller Unterstützer*innen im Halbdunkeln.
»Wir sind hier für die Türkei, wegen des Erdbebens, um zu helfen«, sagt Dilara Özdemir. Sie ist mit Familie und Freund*innen vor Ort, gemeinsam sortieren sie die mitgebrachten Sachspenden. »Binden für die Frauen, Babynahrung, Batterien für die Taschenlampen, Pampers für die Babys, Hunde- und Katzenfutter, Klamotten und Decken«, zählt die 21-Jährige den Inhalt der Kisten und Tüten auf. Verwandte oder Freund*innen hat Özdemir nicht in der Region, in dem das Erdbeben in der Türkei und in Syrien Dörfer zerstört und Tausende Menschenleben gekostet hat. »In unserer Heimatstadt war nur ganz wenig vom Erdbeben zu spüren«, sagt sie. Es sei die generelle Verbundenheit mit den Menschen in der Türkei, die sie und ihr Umfeld zu den Spendensammelaktionen brächten.
Während die letzten Transporter mit den Sachspenden beladen werden, steht Murat Öksüz in einer orangenen Warnweste auf dem Gehweg und versucht, den immer weiter dazukommenden Menschen zu erklären, dass sie hier ihre Spenden nicht mehr loswerden. »Vielen Dank, dass ihr hier seid, wir brauchen keine Helfenden mehr. Schaut im Internet nach, wo ihr die Sachen morgen hinbringen könnt«, rät der den Unterstützungswilligen. Es seien am Dienstag unerwartet viele Menschen gekommen, um Spenden abzugeben, sagt der ehrenamtliche Helfer zu »nd«. Er selbst habe keine vom Erdbeben Betroffenen in seinem Umfeld. »Aber trotzdem fühlt und fiebert man natürlich mit«, sagt er.
Der sozialpolitische Sprecher der Grünen-Fraktion im Abgeordnetenhaus, Taylan Kurt, erzählt, dass täglich Hunderte Menschen in die Emdener Straße in Moabit kommen, um beim türkischen Pflegedienst Dosteli Spenden abzugeben. »Es sind viele junge Menschen dabei, die Klamotten und Hygieneartikel kaufen«, sagt Kurt zu »nd«. Ein Großteil der Helfer*innen komme aus der türkischen Community, es seien aber auch einige Nachbar*innen vor Ort. Die Spendenaktionen, die die türkischen Vereine und Initiativen in Berlin organisieren, würden mit dem Türkischen Konsulat koordiniert, die gesammelten Hilfsgüter mit der Turkish Airline in die betroffenen Gebiete geflogen, so Kurt.
»Am Ende des Tages ist es die Zivilgesellschaft, die die Aktionen kurzfristig auf die Beine stellt und trägt«, sagt der Grünen-Politiker. Nun müsse die Berliner Politik nachziehen und praktische Solidarität organisieren, zum Beispiel, indem Freiwillige organisiert werden und Kontakt zu türkischen Organisationen vor Ort hergestellt werde.
»Es ist eine enorme Solidaritätsleistung in Berlin, vor allem von den Menschen, die Angehörige in den betroffenen Gebieten haben«, sagt Elif Eralp, migrationspolitische Sprecherin der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus, zu »nd«. Etliche Organisationen seien daran beteiligt. »Sehr viele Leute geben Sachspenden ab, viele wissen nicht, wie sie sonst helfen sollen«, so Eralp. Ihre eigene Fraktion organisiere eine Spende von insgesamt voraussichtlich 10 000 Euro an Medico International und die Alevitische Gemeinde, die Bundestagsfraktion der Linken wolle eventuell an den Kurdischen Roten Halbmond spenden. »Diese Organisationen haben Partner*innen vor Ort. Da wissen wir, dass die Hilfe wirklich bei den Opfern ankommt«, sagt Eralp.
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