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Durkheim und die deutsche Mentalität: Nie wieder Deutschland

1915 rechnete der berühmte Soziologe Émile Durkheim mit einem kriegstreiberischen deutschen Nationalismus ab. Das Buch wurde jetzt neu aufgelegt.

  • Nikolas Lelle
  • Lesedauer: 7 Min.

Im Jahre 1945 reiste der Schriftsteller und Partisanenführer Abba Kovner von Palästina zurück nach Deutschland. Im Gepäck hatte er einen Anschlagsplan: Mit der jüdischen Organisation Nakam wollte er einen Giftanschlag auf die deutsche Zivilbevölkerung verüben – ein Akt der jüdischen Rache an den Deutschen für ihre Schuld am Holocaust. Zu dem Attentat kam es nicht, denn Kovner wurde auf seiner Rückreise von den Briten verhaftet. Mit dem französischen Soziologen und Mitbegründer der Disziplin, Émile Durkheim, hat diese Geschichte erst einmal nichts zu tun; er starb bereits 1917. Die Autorin und Kulturkritikerin Marie Rotkopf stellt trotzdem einen Zusammenhang her. Denn Durkheim analysierte angeblich das, was Kovner – der Großonkel Rotkopfs – später bekämpfte: die deutsche Mentalität.

Diese Mentalität habe, so kam Durkheim in seinem letzten und kaum rezipierten Buch »Deutschland über alles« zu dem Schluss, zum Ersten Weltkrieg geführt. In der nun vorliegenden Neuausgabe des Bandes will Rotkopf in einem begleitenden Essay über Durkheim hinausdenken: Jene Mentalität liege auch dem Zweiten Weltkrieg zugrunde und lebe eigentlich bis heute fort. In vielen wunderlichen Wendungen sucht sie einen poetischen Anschluss an den Kampf gegen den Krieg und erkennt die deutsche Mentalität heute nicht nur in der Europäischen Union, sondern auch in der deutschen Solidarität mit der Ukraine. Rotkopfs irritierende tagesaktuelle Einlassungen zeigen nicht zuletzt, dass Durkheims sachlich formulierte Analyse aus dem Jahr 1915 zu grobschlächtig ist, um die heutigen Verhältnisse zu erklären.

Die Deutschen und ihr Staat

Durkheim führte den Ersten Weltkrieg auf jene spezifisch »deutsche Mentalität« zurück, die er prototypisch im Werk des preußischen Politikers und Historikers Heinrich von Treitschke sah. Treitschkes Vorlesung »Politik«, die er ab Mitte der 1870er-Jahre jedes Wintersemester an der damaligen Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität hielt, bildet den Gegenstand der Analyse dieser Mentalität, die »hauptsächlich im Hinblick auf den Krieg entworfen wurde«. Treitschkes grundlegende Behauptung war, der Staat sei seinem Wesen nach Macht, dessen Ziel des Staats folglich darin bestehe, diese Macht zu erhalten und auszubauen.

Ein starker Staat sei dabei an nichts gebunden, weder an Völkerrecht noch Moral. »Das Wesen des Staates«, so Treitschke, »besteht darin, dass er keine höhere Gewalt über sich dulden kann.« Als Militarist erscheint Treitschke daher auch der Krieg als die adäquate Weise, um Macht auszubauen. Dem Credo »Der Zweck heiligt jedes Mittel« nach seien entsprechend auch alle Formen von »Unmenschlichkeit« im Krieg erlaubt, wenn sie diesem Interesse dienten.

Konkret hatte Treitschke dabei den deutschen Staat vor Augen. Über diesem gäbe es nichts, weshalb Durkheim seine Analyse dieser Mentalität passenderweise »Deutschland über alles« nennt: Der Glaube an eine deutsche Überlegenheit und das »Grundprinzip des Pangermanismus« sind hier zentral. Treitschke tritt ein für einen deutschen Staat, der sich die Welt unterwirft. Durkheim sieht genau diese Geisteshaltung im Ersten Weltkrieg am Werk, die Marie Rotkopf bis in die Gegenwart ausmachen will. Aber lässt sich diese Diagnose einfach auf die spätere Geschichte, den Nationalsozialismus bis heute, übertragen?

Bereits in Treitschkes Weltbild soll sich das Individuum für eine höhere Gemeinschaft opfern. Die Nationalsozialisten schließen hier mit ihrer Vorstellung einer Volksgemeinschaft unmittelbar an: Die Einzelnen zählen nichts und »fester Gehorsam«, so Treitschke, »ist für den Bürger das erste Erfordernis«. Im Anschluss an den politischen Theoretiker Thomas Hobbes hält Treitschke fest, dass es nicht um die Gesinnung gehe, sondern allein um diesen Gehorsam. Dies aber werden Nationalsozialisten wie Carl Schmitt später scharf kritisieren. Denn der nationalsozialistische Staat will nicht bloß Gehorsam, sondern Gefolgschaft und aktive Mitarbeit – und dafür scheint es notwendig, auch die richtige Gesinnung herzustellen.

Historische (Dis-)Kontinuitäten

Treitschkes Ausführungen aus dem 19. Jahrhundert bilden Durkheim zufolge die Blaupause für »Deutschlands Eroberungs- und Annektierungslust«, mit der sich »jene Taten«, die »man Deutschland nicht zutrauen wollte«, ab 1914 erklären ließen. Durkheim endet in seinem Buch zuversichtlich, obwohl er es 1915 veröffentlicht: »Ein Staat kann sich nicht erhalten, wenn er die Menschheit gegen sich hat.«

Marie Rotkopfs begleitender Text besteht aus fiktiven Briefen, die sie von Dezember 2020 bis Mai 2022 an Durkheim schreibt. Einige Briefe liefern interessante Hintergründe zu dessen vergessenem Text, berichten von der französischen Rezeption oder Durkheims politischen Einlassungen, etwa seinem Eintreten für den aus antisemitischen Gründen verurteilten Hauptmann Alfred Dreyfus. Mit dem Überfall auf die Ukraine rückt aber zunehmend die Tagespolitik in den Fokus von Rotkopfs Interesse. Ihre harsche Kritik an der deutschen Solidarität mit der Ukraine zeigt eine ahistorische und rein formale Übertragung der Analyse Durkheims. Dieser selbst liefert dafür aber eine Vorlage, da seine Darstellung schlicht zu grob bleibt: Sein Fokus auf diese eine Vorlesung von Treitschke bringt eine eklatante Leerstelle mit sich.

In Deutschland dürfte Treitschke vor allem durch seinen wirkmächtigen, antisemitischen Text »Unsere Aussichten« von 1879 bekannt sein, der mit den Worten endet, »die Juden sind unser Unglück«. Diesen tiefsitzenden Antisemitismus müsste man auch in Treitschkes politischer Analyse mitdenken, um zu begreifen, dass die deutsche Überheblichkeit nicht rein formal bleibt, sondern inhaltlich gefüllt ist: Das deutsche Selbstbild beruht auf antisemitischen und rassistischen Fremdbildern. Wenn Treitschke den verhassten Frieden, wie Durkheim paraphrasiert, für den »Sieg des Eigennutzes über den Geist der Hingabe und der Aufopferung« hält, dann bedient er sich antisemitischer Codes, die sich nur dechiffrieren lassen, wenn sie in Beziehung zum Text »Unsere Aussichten« gestellt werden. Rotkopf stellt diese Verbindung nicht her, auch wenn Antisemitismus im Essay vereinzelt eine Rolle spielt. Die von ihr diagnostizierte »kollektive Paranoia« der Deutschen lässt sich aber nur adäquat begreifen unter Verweis auf den Antisemitismus. Denn es ist eine Paranoia vor »dem Jüdischen«.

Überall deutsche Mentalität?

Man kann Rotkopfs Essay zugutehalten, dass sie mit aller Vehemenz vor der deutschen Mentalität warnen will, davor, einer deutschen Wiedergutwerdung aufzusitzen. Ihr zufolge haben »die Deutschen nichts aus der Geschichte lernen wollen«, die von Durkheim analysierte Mentalität sei weiterhin am Werk. In Bezug auf die deutsche Rolle in der EU kann sie diesen Zusammenhang noch nachvollziehbar argumentieren. Die EU sei gegründet worden, um »die Todestriebe der Deutschen, ihre morbide Mentalität zu kontrollieren«. Nun aber sei sie lediglich eine Fortsetzung dieser Mentalität, denn »die Deutschen sind die Herren Europas, und sie haben eine Währung: den Euro«. Die Rolle Deutschlands im Zuge der Finanz- und Wirtschaftskrise nach 2008 ist tatsächlich höchst kritikwürdig und erfüllte gewissermaßen die Sorge, die bereits im Mai 1990 in Frankfurt am Main in die Parole »Nie wieder Deutschland« gegossen wurde.

Rotkopf verwebt diese Analyse dann aber auf irritierende Weise mit dem Tagesgeschehen um den Ukraine-Krieg. Spätestens an diesem Punkt wird klar, dass eben doch nicht alles einfach nur dasselbe ist. Sie schreibt über die Deutschen: »Heute sind sie wieder happy. Es gibt noch einmal einen Krieg in Europa.« An anderer Stelle raunt sie: »Wie kann es sein, dass all diese Deutschen den Weg der Zerstörung noch einmal nehmen wollen?« Bei Rotkopf klingt es so, als ob Deutschland wieder einen Krieg begonnen hätte. Den »Hingang der Demokratie« sieht sie in dem von einer Deutschen, Ursula von der Leyen, angekündigten Verbot der russischen Staatssender Sputnik und RT im Februar 2022. Für sie ist das jenes von Deutschland forcierte »Ende der Pressefreiheit« keine Maßnahme gegen Desinformationskampagnen.

Die staatliche Unterstützung der Ukraine wird für Rotkopf zum Ausdruck des Fortlebens der deutschen Mentalität. Ein »deutscher getarnter Nationalismus« zeige »mit dem Krieg zwischen der Ukraine und Russland sein wahres Gesicht«. Nachvollziehbar wird diese steile These nicht. Sie verweist aber auf die Lücken bei Durkheim.

Rein formaler Nationalismus

Ein rein formal bestimmter Nationalismus lässt sich zwar über die Geschichte hinweg anwenden, der historischen Spezifik wird man damit aber nicht gerecht. Auch Durkheim denkt die Staatsüberhöhung und -ermächtigung, denkt aber nicht mit, gegen wen sich diese Bewegung richtet. Mindestens die fehlende Reflexion auf Rassismus und Antisemitismus als politikbestimmende Katalysatoren machen es schwer, Durkheims Analyse sinnvoll auf die Gegenwart anzuwenden.

Das ist erst einmal auch nicht verwunderlich: Durkheims Analyse ist 107 Jahre alt und widmet sich einer mehr als 140 Jahre alten preußischen Geisteshaltung. Wie soll damit die aktuelle Rolle Deutschlands im Ukraine-Krieg erklärt oder kritisiert werden? Rotkopfs Übertragung wird Durkheims Analyse schlicht nicht gerecht und lenkt von seiner sinnvollen Kritik ab. Denn es ist durchaus wichtig, über das Nachleben einer deutschen Mentalität und des Nationalsozialismus nachzudenken – aber Rotkopf schert alles über einen Kamm und so muss ihr vorgehalten werden, dass sie genau diese Spezifik nicht interessiert. Durkheims Text hingegen zeigt vor allem, wie zentral das 19. Jahrhundert für die Genese des deutschen Nationalismus (und übrigens auch für den Antisemitismus) war, der sich im 20. Jahrhundert mehrfach Bahn brach. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Émile Durkheim: Deutschland über alles. Die deutsche Mentalität und der Krieg. Herausgegeben und mit einem Essay von Marie Rotkopf. Matthes & Seitz 2022, 155 S., br., 18 €.

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