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Biografie über Jacob Taubes: Esprit und Apokalypse
Die neue Biografie über Jacob Taubes zeigt den Intellektuellen im Zentrum eines faszinierenden Panoramas des 20. Jahrhunderts
In einem Brief aus dem Jahre 1965 hielt der Philosoph Dieter Henrich nach einem Gespräch mit Jacob Taubes fest: »Lieber Taubes, ich glaube Ihnen kein Wort, aber mit Ihnen zu reden, ist wirklich gut.« In zugespitzter Form reflektierte Henrich eine Erfahrung, die so manchem von Taubes’ Weggefährten nicht fremd gewesen sein dürfte. Diese Wahrnehmung betraf auch Taubes als öffentliche und akademische Person, als die er sich stets mit der Frage konfrontiert sah, ob es sich bei ihm um ein Genie oder einen genialen Scharlatan handelt.
Jerry Z. Muller, emeritierter Professor für Geschichte an der katholischen Universität Washington, D. C., hat in den vergangenen 20 Jahren akribische Archivrecherchen betrieben, nahezu 200 Interviews geführt und nach schier endloser Lektüre versucht, das Rätsel um die Figur Jacob Taubes (1923–1987) zu entschlüsseln. Herausgekommen ist eine knapp 800-seitige Biografie, die den Religionssoziologen und Philosophen, den Impresario und Lebemann Taubes ins Zentrum eines schillernden, sich über drei Kontinente erstreckenden Panoramas der Intellectual History des 20. Jahrhunderts einschreibt.
Muller verschafft damit einem Intellektuellen der zweiten Reihe Geltung, der sein umfängliches religionsphilosophisches Wissen über Judentum, Christentum, Gnosis und Apokalyptik nicht als bloße akademische Übung verstand, sondern als existenzielle (Selbst-)Erfahrung, als transzendentale Kraft, der er sich vielfach unter Missachtung wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Konventionen hingab.
»Professor der Apokalypse«
Dass Taubes auf diesen Pfad gelangte, begründet Muller mit den frühen Prägungen seiner Herkunft. Geboren in eine jüdische, mit Generationen von Rabbinern aus dem östlichen Europa gespickte Familie, wuchs Taubes – zunächst in Wien, ab 1936 in Zürich – in zwei distinkten Welten auf, die wesentlichen Einfluss auf sein Denken und seinen Charakter ausüben sollten. Da war die Welt des jüdischen Textes, des Thora-, Talmud- und Hebräisch-Studiums in der Jeschiwa, sowie der familiären Unterweisung im jüdischen Ritus. Dem gegenüber stand die säkularisierte Welt von Wissenschaft, Universität und Aufklärung, aber auch von Ausschweifung und Sinneslust, die ihn ebenfalls in ihren Bann geschlagen hatte.
Der Tradition des Elternhauses folgend wurde er 1946 zum Rabbiner ordiniert, bevor er nach New York übersiedelte, um dort rabbinische Studien zu betreiben. Vom intellektuellen Klima der Stadt inspiriert, wandte sich Taubes hier jedoch nach weniger als zwei Jahren von den religiösen Studien ab, um seiner Neigung, theologische mit politischen und philosophischen Fragen zu kombinieren, zu folgen. Deutlich hatte sich diese Neigung in Taubes 1947 veröffentlichter Dissertation »Studien zu Geschichte und System der abendländischen Eschatologie«, artikuliert, in der er mit dem Gedanken der Apokalyptik als einer von religiösen wie weltlichen Kräften getragenen Bewegung zur grundstürzenden Erneuerung der Welt sympathisierte – eine Haltung, an der Taubes zeitlebens festhielt und die Muller stimmig für den Titel seiner Studie auswählte.
Taubes ging zunächst nach Israel, wo er mittels verschiedener Kontakte an die Hebräische Universität Jerusalem gelangte. Wie in New York eilte ihm auch hier dank seines umfänglichen Wissens in Philosophie, Theologie und jüdischer Tradition der Ruf voraus, er sei ein intellektuelles Wunderkind. Auch die späteren Lehrstätten Princeton, Harvard und Columbia empfingen ihn mit Vorschusslorbeeren.
Taubes’ unkonventionelle Art zu denken, gegenläufige Positionen zum Kanon einzunehmen und diese in lebendiger Art vorzutragen, brachte ihm Sympathien und Anerkennung ein. Besonders unter der Studierendenschaft genoss er erhebliches Ansehen. Seine interdisziplinär angelegten Seminare behandelten theologische, philosophische und literaturwissenschaftliche Themen, die er häufig mit geistigen und politischen Einflüssen aus Europa anreicherte. Protestantismus, Liberalismus, Säkularisierung, Kapitalismus, Kommunismus und ihre europäischen Ideengeber hatten während seines Studiums der Philosophie, Geschichte, Soziologie, deutscher und griechischer Literatur zu seinem täglichen Brot gehört. Dass er diese Einflüsse an amerikanischen Universitäten zu einer Zeit anbringen konnte, als jene Ideen dort noch nahezu unbekannt waren, steigerte das Interesse an seiner Person und trug zu seiner Wahrnehmung als Exot bei.
Polarisierender Netzwerker
Muller, der im Verlauf des Schreibens durchaus Sympathien für die Person Jacob Taubes entwickelte, spart den erratischen, polarisierenden und intriganten Taubes nicht aus. Denn trotz seiner Popularität unter Student*innen und der Anerkennung von Kolleg*innen, gab es eine beträchtliche Zahl von Personen, die ihn für einen Angeber hielten, der nicht mehr als brillant vorgetragenes Halbwissen vorzuweisen hatte – eine Einschätzung, die Taubes an mancher Universität die Berufung auf eine Festanstellung kostete.
Vielfach kolportiert ist in diesem Zusammenhang der Streich zweier Kollegen aus Harvard, die seine Prahlerei bloßstellten. In einem Seminar begannen sie die Theorien des im Mittelalter wirkenden Scholastikers Bertram von Hildesheim zu diskutieren. Taubes beteiligte sich und hielt gar ein ausgedehntes Korreferat über Bertram von Hildesheims Psychologie, bis er darauf hingewiesen wurde, dass dieser eine bloße Erfindung sei.
Überdies stellt Muller Taubes’ Mangel an wissenschaftlicher Produktivität heraus. Zwar sprudelte er vor Ideen, begann eine Vielzahl wissenschaftlicher Vorhaben – so wollte er Spinozas »Theologisch-Politischen Traktat« aus dem Lateinischen ins Hebräische übertragen –, doch führte er die meisten, so auch die Übersetzung, nie zu Ende. Dass Taubes neben seiner Dissertation kein weiteres umfassendes Werk vorlegte, beförderte den Eindruck einiger Kolleg*innen, ihm fehle es an der notwendigen Beharrlichkeit, seine ungezählten wissenschaftlichen Interessen systematisch zu bearbeiten.
Was Taubes an akademischer Sitte mangelte, kompensierte er, so Muller, mit einer Fülle akademischer Bekanntschaften in den Vereinigten Staaten, Israel, Frankreich und der Bundesrepublik. Dank Mullers umfangreicher Recherchen blickt die Leserin auf das Who’s Who theologischer, philosophischer und politischer Korrespondenzpartner*innen, von den Vertretern der Frankfurter Schule über Paul Tillich, Hannah Arendt und Leo Strauss bis hin zu Hans Blumenberg, Susan Sontag, Martin Buber oder Hugo Bergmann. Mit der Mehrheit pflegte Taubes das intellektuelle Gespräch über Ideen und Theorien, mit manchen – so etwa mit Susan Sontag – verband ihn eine lange Freundschaft.
Taubes’ Beziehungen zu Gershom Scholem und Carl Schmitt räumt Muller gesonderten Raum ein. Der Kontakt zu beiden war zugleich von Faszination und Abneigung geprägt. Den Historiker der jüdischen Mystik Scholem schätzte Taubes wegen seines profunden Wissens in jüdischer Geschichte und Kultur. Scholem seinerseits war beeindruckt von Taubes’ intellektuellem Esprit, doch eine Indiskretion beendete 1951 die enge Bindung. Es folgte eine bis zu Scholems Tod 1982 währende neurotisch anmutende Fehde, in der sich die Besessenheit beider voneinander widerspiegelt.
Taubes’ Faszination für Carl Schmitt wirkt auf den ersten Blick kurios: hier der linke Jude, dort der führende Staatsrechtler des Nationalsozialismus. Zwar kokettierte Taubes vor Kollegen gern mit dem, wie er ihn in einem Artikel nennen sollte, »Apokalyptiker der Gegenrevolution«. Doch an Schmitts These, wonach alle politischen Konzepte, einschließlich Souveränität, Autorität und Legitimität, grundsätzlich religiöser Natur seien, hegte er ein genuines intellektuelles Interesse. Prinzipiell schien Taubes’ Neigung zur intellektuellen Auseinandersetzung auch mit Blick auf seinen Aufenthalt im postnazistischen Deutschland gegolten zu haben. Auch wenn er die Konfrontation als Jude mit den Deutschen nicht suchte, er, folgt man Mullers Darstellung, seinen exotischen Status durchaus für sich zu nutzen verstand, wich er dem unangenehmen Gespräch und der Begegnung nicht aus.
Panorama politischer Debatten
Hierzulande dürfte Taubes’ Bekanntheit auf seine Verbindungen zur Studentenbewegung an der Freien Universität Berlin Ende der 60er Jahre zurückzuführen sein. 1966 war er von New York an die FU berufen worden, um das neu gegründete Institut für Judaistik aufzubauen und zugleich das für Hermeneutik zu leiten.
Taubes scheute politische Auseinandersetzungen an der Hochschule nicht: Mit marxistisch inspirierter Rhetorik trat er für studentische Partizipation an der Hochschulverwaltung ein, begrüßte die Besetzung von Hörsälen zum Protest gegen den Vietnam-Krieg, verteidigte die Mitglieder der »Kommune 1« öffentlichkeitswirksam gegen den Vorwurf der Volksverhetzung, unterstützte die Berufung marxistischer Professoren, forderte die Aussetzung des Lehrbetriebs nach der Ermordung Benno Ohnesorgs und inspirierte studentische Protestkundgebungen mit leidenschaftlichen Reden. Parallel nutzte er seine weitreichenden Kontakte, um etwa Herbert Marcuse an die FU einzuladen oder Angela Davis mit einer Gastprofessur zu versehen.
Mullers Studie zeichnet durch Taubes hindurch ein lebhaftes Panorama der (hochschul-)politischen Debatten der späten 60er und 70er Jahre in Berlin: »Taubes war begeistert von der Entwicklung der Ereignisse. Nachdem er so viel über apokalyptische Momente geschrieben und gelehrt hatte, erlebte er nun einen.« Zugleich verbiss er sich in die Konflikte der Hochschule. Er fand, noch nachdem sich viele Gleichgesinnte von den immer doktrinärer auftretenden Studenten abgewandt hatten, nur schwer den Absprung und überwarf sich mit einer Vielzahl von Kolleg*innen.
Dass sich Taubes nach diesen turbulenten Jahren zum Ende seines Lebens und von schwerer Krankheit gezeichnet, abermals seinem langjährigen wissenschaftlichen Weggefährten, dem Apostel Paulus zuwandte, ihn entgegen aller theologischen Deutungen dem Judentum zuschlug, unterstrich, wie sehr ihn, Taubes, das unorthodoxe und jüdische Denken geprägt hatte.
Muller ist es in seiner umfangreichen und anregenden Biografie gelungen, den unorthodoxen und bisher etwas im Abseits der Intellectual History stehenden Jacob Taubes einer interessierten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Überzeugend führt er den in unterschiedlichen Kontexten mit unterschiedlichen Anliegen wirkenden Taubes zu einer greifbaren, wenn auch widerspruchsvollen Figur zusammen. Angesichts Mullers Materialreichtums und der ausführlichen Darstellung des Taubes umgebenden Milieus stellt sich die Frage, ob nicht ein zweites Buch zur Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts mit dem Schwerpunkt (jüdischer) Religion und Politik ein ebenfalls reizvolles Projekt gewesen wäre.
Jerry Z. Muller: Professor der Apokalypse.
Die vielen Leben des Jacob Taubes. Suhrkamp, 927 S., geb., 58 €.
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