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Berlin-Wahl: Im Zerrspiegel der Direktmandate
Karlshorst tiefschwarz? Wie mit einer Grafik Stimmung gegen Rot-Grün-Rot gemacht wird
Eindrucksvoll ist sie ja, die Karte der gewonnenen Direktmandate nach der Wiederholungswahl in Berlin. Viele Medien nutzten die Grafik mit dem dicken schwarzen Rand und dem grünen Fleck in der Mitte prominent zur Illustration des Wahlergebnisses. Die »Berliner Morgenpost« beschwor sogar eine neue Mauer, diesmal entlang des S-Bahn-Rings.
Die Karte der in den Wahlkreisen direkt Gewählten scheint die Botschaft vom abgewählten SPD-Senat zu unterstreichen: Die CDU gewann in einem breiten Band Wahlkreise in den Außenbezirken. Die einzige Ausnahme sind zwei Wahlkreise im äußersten Nordosten für die AfD, während im Zentrum vor allem die Grünen erfolgreich waren. Grünen-Wähler in den innerstädtischen Altbauvierteln gegen CDU-Dominanz an der Peripherie: Wer wollte auf diese Erzählung verzichten, wenn es eine so eindringliche grafische Unterstützung dafür gibt?
Besser noch als die zehn Prozentpunkte Stimmenzuwachs für die CDU scheint diese Grafik die angebliche Wechselstimmung, aber auch die Spaltung der Stadt zu illustrieren. Es ist ein Bild, in dem die »normalen« Menschen außerhalb des S-Bahn-Rings, die »Fahrradextremismus« und »Multikulti-Illusionen« nicht teilen, sich mit einem Kreuz bei der CDU am links-grünen Senat rächen.
Doch was das Bild mit den schwarzen Außenbezirken und der grünen Innenstadt suggeriert, ist so eingängig wie falsch. Denn die Verteilung der Direktmandate zeigt viel weniger die politische Stimmung in der Stadt als die Verzerrungen, die ein Mehrheitswahlrecht nun einmal hervorruft. Für das Kräfteverhältnis der Parteien in den Parlamenten ist es deshalb nahezu unmaßgeblich, welche Partei den Direktkandidaten stellt. Die Mehrheitsverteilung hängt stattdessen im Wesentlichen von den Zweitstimmen ab.
So auch im neuen Abgeordnetenhaus. Wenn es nur nach den Direktkandidaten ginge, würde das Berliner Landesparlament von einer erdrückenden absoluten CDU-Mehrheit dominiert. Denn laut dem vorläufigen Endergebnis hat die CDU 48 Direktmandate gewonnen, gefolgt von den Grünen mit 20 Direktmandaten. SPD und Linke kommen jeweils auf vier Mandate, die AfD erhielt zwei. Danach wären die Grünen also fünfmal stärker als die SPD und diese genauso stark wie die Linke.
Auch daran sieht man, wie sehr ein Mehrheitswahlrecht die wahren Stimmenverhältnisse verzerren kann. Denn nach dem Zweitstimmenergebnis hat bekanntlich Rot-Grün-Rot im Abgeordnetenhaus nicht nur eine Mehrheit, sondern auch eine deutlichere als die beiden möglichen CDU-geführten Koalitionen. Und diese Mehrheit ist nicht zufällig, sondern sie fußt auf einer inhaltlichen Schnittmenge.
In keinem Wahlkreis ist es der CDU gelungen, mehr als 50 Prozent der Erststimmen zu erlangen, auch wenn sie in Lichtenrade mit 49,6 Prozent ziemlich nah dran war. Nur selten gewann die CDU ihre Wahlkreise so deutlich wie dort, wo der CDU-Kandidat Christian Zander in einem durch Einfamilienhäuser und drei Großsiedlungen aus den 60er und 70er Jahren geprägten Ortsteil im äußersten Süden Westberlins das Rennen machte.
SPD, Grüne und Linke zusammen haben dagegen in den meisten Wahlkreisen, die die CDU gewonnen hat, auch unter den Erststimmen mehr Unterstützung als die Union. Es zeigt sich dasselbe Bild wie auf Landesebene. Auf dem rechten Flügel des demokratischen Spektrums gibt es eine einzige dominante Kraft, die CDU, während sich die Mitte-links-Stimmen auf drei Kräfte aufteilen, die recht nah beieinander liegen.
Da es in Berlin fünf Parteien gibt, die aussichtsreiche Direktkandidaten aufstellen, genügen manchmal schon knapp über 20 Prozent der Stimmen, damit ein Bewerber gewinnt. Lilia Usik, der Direktkandidatin der Union im Wahlkreis Lichtenberg 6, reichten schon 22,4 Prozent der Stimmen für den Erfolg. Leicht ließe sich hier die Geschichte ausmalen, wie die kleinstädtische Anmutung des betreffenden Lichtenberger Ortsteils Karlshorst mit dem CDU-Erfolg zusammenhängt, ein Ortsteil, vom dem man mit der S3 genauso lange zur Friedrichstraße braucht wie ins brandenburgische Erkner.
Und so ließe sich dann irgendein Gegensatz zwischen der neuen Bürgerlichkeit junger Familien, die nach Karlshorst ziehen, und dem Lebensgefühl der Einwohner in Kreuzberg oder Prenzlauer Berg konstruieren. Doch auch in diesem Wahlkreis haben mehr als die Hälfte, nämlich 57,4 Prozent der Wähler, mit ihren Erststimmen für einen der drei Kandidatinnen und Kandidaten von Linken, SPD und Grünen gestimmt, also weder »Rot-Grün-Rot abgewählt« noch einen »Wechselwillen« artikuliert. Trotz dieser satten Mehrheit: Auf der Übersicht der Direktmandate ist der Wahlkreis Lichtenberg 6 tiefschwarz. Die Erststimmen für alle drei Kandidaten der Koalition tauchen im Wahlergebnis eben nicht auf.
Die hohe Zahl der Direktmandate für die Union ist vor allem Ausdruck der Schwäche der SPD, die als traditionelle Führungskraft im Mitte-links-Lager früher (zumindest im Westen) den größten Teil der Erststimmen aus diesem Spektrum einsammelte. Wie sehr sie diese Position eingebüßt hat, wird im Wahlkreis von Franziska Giffey im südlichen Neukölln deutlich. Dort hat die SPD-Spitzenkandidatin gegen einen nahezu unbekannten Kfz-Meister von der CDU verloren. Auf die Regierende Bürgermeisterin entfielen gerade einmal 29,6 Prozent, für Olaf Schenk stimmten 45,3 Prozent. In ihrem Wahlkreis könnte sich die SPD-Landeschefin auch nicht damit retten, dass sie Stimmen an die Grünen verloren hätte, denn ausgerechnet hier liegt Rot-Grün-Rot auch gemeinsam hinter der Union.
Das Gerede über die Spaltung zwischen den Außenbezirken und der Innenstadt ist auch beim Vergleich einzelner Wahlkreise wenig überzeugend, zu sehen etwa in den Wahlkreisen Steglitz-Zehlendorf 7 und Lichtenberg 1: Beide liegen am Stadtrand, in beiden haben CDU-Direktkandidaten mit etwa 40 Prozent gewonnen. Aber glaubt man wirklich, dass die Gründe, warum Stephan Standfuß zwischen Wannsee und Kleinmachnow wie üblich für die CDU gewann, dieselben sind wie die, die dem CDU-Politiker Danny Freymark in der Ostberliner Großwohnsiedlung Neu-Hohenschönhausen 40,8 Prozent eingebracht haben? Der CDU ist es gelungen, von der vorhandenen Unzufriedenheit in der Stadt zu profitieren. Nur erwartet trotz ihrer Zugewinne weiterhin eine Mehrheit der Berlinerinnen und Berliner nicht ihr, sondern von SPD, Grünen und Linken eine Antwort auf die Probleme.
Ja, es gibt Fragen, die sich für die Außenbezirke und die Innenstadt unterschiedlich stellen. In der Verkehrspolitik sind die Unterschiede zwischen innen und außen in Berlin offensichtlich. Wer in der Innenstadt wohnt und arbeitet, kann seine täglichen Wege leichter mit dem Fahrrad erledigen als jemand, der aus den Außenbezirken ins Zentrum pendelt. Am Stadtrand ist die Taktung des öffentlichen Personennahverkehrs ein viel drängenderes Problem als innerhalb des S-Bahn-Rings. Die CDU hat von der Wahrnehmung profitiert, der rot-grün-rote Senat habe bei der Verkehrswende nur die Innenstadt im Blick. Aber auch die Union wird nicht daran vorbeikommen, dass ab 2035 keine neuen Verbrenner mehr zugelassen werden, auch wenn sie im Wahlkampf mit aller Macht den Eindruck erweckt hat, die Verkehrswende aufhalten zu können.
Bei vielen anderen politischen Baustellen gibt es diese Unterschiede dagegen kaum oder gar nicht. Marode Schulen und Lehrermangel, der Wahnsinn, einen Termin beim Bürgeramt zu bekommen, oder die exorbitant steigenden Mieten sind Probleme, die die gesamte Stadt belasten. Rot-Grün-Rot kam dabei bisher zu langsam voran, aber trotz der vielen schwarzen Direktmandate will offenbar eine Mehrheit der Berlinerinnen und Berliner, dass nach dem Wahlchaos 2021 die bisherige Koalition eine zweite Chance bekommen soll.
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