Das Kind als König

Wo Kind sein, wenn nicht im Land der unbegrenzten Möglichkeiten? Amerikanischen Kindern wird das Leben ganz selbstverständlich immerzu versüßt.

  • Jana Talke
  • Lesedauer: 3 Min.
Prinzessin spielen geht hier ganz besonders gut.
Prinzessin spielen geht hier ganz besonders gut.

Als ich mit 30 Jahren nach Amerika kam, wurde ich sogleich beleidigt. »Wie viele Kinder habt ihr?«, fragte uns eine nette Dame auf der ersten Dinnerparty, zu der mein Mann und ich geladen waren. »Noch keine«, fühlte ich mich verpflichtet zu antworten, obwohl ich stattdessen ausrufen wollte: »Hallo, seh ich schon so alt aus?!« Ich kam ja aus Norddeutschland, wo vor 30 Kinder zu kriegen als Teenieschwangerschaft gilt, und vergaß für kurze Zeit, wohin ich ausgewandert war. Denn für texanische Verhältnisse ist 30 schon geriatrisch. Zum Glück wurde ich mit 31 noch Mutter. Das geschah nicht mal aus Gruppenzwang, obwohl ich dem sonst immer erliege; tatsächlich wollte ich unbedingt ein Kind (und jünger aussehen, aber man kann nicht alles haben).

Talke talks
News aus Fernwest: Jana Talke lebt in Texas und schreibt über amerikanische und amerikanisierte Lebensart.

In Texas werden Kinder auch komplett anders erzogen und behandelt als in Deutschland. Sie erwarten jetzt Ami-Bashing, nicht wahr? Ständig beten, den lieben Tag ins iPad glotzen, wenn man nicht gerade Schießübungen macht? Tatsächlich muss ich das Gegenteil vollbringen – Ami-Lob. Denn Kinder werden hierzulande geschätzt. Egal ob ein Baby schreit oder ein Kleinkind durchdreht: Fremde helfen, lenken ab, bieten an, das Kind zu halten, machen dem Störenfried Komplimente. Wenn ich mit meiner Tochter innerhalb der USA fliege, lächeln uns alle an. Wenn ich mit ihr in ein Lufthansa-Flugzeug einsteige, meint man bei der Anzahl der bösen Blicke die wir empfangen, ich hätte statt eines Kindes Donald Trump dabei.

Das Leben wird den amerikanischen Kindern an vielen Stellen erleichtert und versüßt, so gibt es beim Kinderzahnarzt mehrere Geschenke und Zeichentrickfilme während der Prozeduren (bei mir gab’s nicht mal Narkose, aber das ist eine andere Story), jeder Supermarkt verschenkt Sticker oder Lollis an die ohnehin ständig naschenden und mit Spielkram behangenen Zwerge. Natürlich birgt der Promistatus der amerikanischen Kinder auch seine Nachteile. Für die Eltern. Wenn man kein Außenseiter sein will, muss man mindestens dreimal so viel ausgeben wie in Deutschland – für Betreuung, Aktivitäten und Ausstattung. Prinzessinnenpartys, ständiger Partnerlook mit Freunden, pausenloses Aus- und Essengehen – die Gesellschaft erwartet, dass Kinder ständig beschäftigt und unterhalten werden. So erlebte ich hier ungelogen Kubismuskurse für Kleinkinder (Wetten, die kannten am Ende auch nicht den Unterschied zwischen Picasso, Léger, Braque und Gris?), mobile Streichelzoos auf Geburtstagspartys und gemietete Limousinen, um Weihnachtsbeleuchtung anzuschauen.

Und wenn Sie glauben, dass Prince Harry in seiner neuen Autobiografie einen Oedipuskomplex an den Tag legte, dann warten Sie, bis Sie hören, was in den US-Südstaaten abgeht. Kleine Mädchen werden wie Bräute aufgetakelt und gehen mit ihren Vätern auf »Daddy-Daughter-Dances« – echte Dates mit Abendessen und Tanz. Manche von ihnen kriegen, wenn sie älter werden, auch noch einen »Promise Ring« von Vaddern reingewürgt; eine Art Schwur, bis zur Ehe »rein« zu bleiben. Jean-Jacques Rousseau riet schon Mitte des 18. Jahrhunderts dazu, Kinder nicht religiös zu indoktrinieren, aber er musste ja auch nicht täglich mit dem Gequengel umgehen, schickte er doch seinen Nachwuchs ins Heim.

Ob amerikanisch-verwöhnt in klimatisierten Eventräumen mit massig Fast Food und in Disneykostümen oder nüchtern-deutsch an frischer Luft mit belegten Broten und in hässlicher Funktionskleidung, die transatlantischen Erziehungsunterschiede sind letztendlich schnuppe. Amerikanische und deutsche Kinder sind sowohl supersüß als auch megafrech und wachsen zu allen denkbaren Erwachsenen heran – Trump, Armstrong, Bohlen, Goethe … Letzterer hatte doch wie immer recht: »Man könnt’ erzogene Kinder gebären, wenn die Eltern erzogen wären.« Und nun muss ich los, liebe Lesende, personalisierte Einladungskarten für den Geburtstag meiner Tochter bestellen! Darauf lädt sie verkleidet zu einer Prinzessinnen- und Ritterparty ein. Sie wissen schon, Gruppenzwang und so.

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